Das alte Schlagwort von der sozialen und ökologischen Umgestaltung von Gesellschaft und Wirtschaft ist aus der Gruft, in die es zu Anfang der 1990er Jahre verdientermaßen versunken war, mit großem Pomp wieder herausgekrochen. Heute beherrscht es nicht nur die Rhetorik der linken Vordenker, sondern prägt das Denken und Handeln der Regierungen, Ämter, Universitäten, der Redaktionen und selbst der Konzerne der Privatwirtschaft.
Wie konnte es dazu kommen? Die Gründe sind zahlreich und vielschichtig, und ich werde mich daher auf die intellektuelle Seite konzentrieren. Nach dem Zusammenbruch des Sowjet-Sozialismus sind die linken Vordenker nicht lange in der Schockstarre verblieben, sondern bald schon zum Gegenangriff übergegangen. Schon lange vor 1989 hatten sie es aufgegeben, die vermeintlichen wirtschaftlichen Vorzüge der Zentralplanwirtschaft zu preisen. Zu offensichtlich war der praktische Misserfolg des Sozialismus, zumindest für all diejenigen, die mit offenen Augen die östlichen Länder bereisten und sich nicht auf die zahlreichen verfälschten Statistiken verließen, die seinerzeit in Umlauf waren.
Die Argumentation der neuen Sozialisten hatte eine andere Stoßrichtung. Sie zielte auf die schädlichen Begleiterscheinungen des Kapitalismus, auf seine vermeintlichen negativen Externalitäten. Die unbehinderte Marktwirtschaft führe zum moralischen Verfall der Gesellschaft und zur Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen.
Es sei daher nicht statthaft, der wirtschaftlichen Freiheit das Wort zu reden. Das freie individuelle Handeln und das freie Miteinander auf der bloßen Grundlage von Treu und Glauben und in den bloßen Grenzen des Privateigentums führten in die moralische und ökologische Katastrophe.
Diese Stoßrichtung erhielt dann im Jahre 2009 noch weitere Schützenhilfe aus unerwarteter Richtung. Papst Benedikt XVI veröffentlichte eine Enzyklika mit dem Titel Caritas in Veritate. In dieser Schrift unterstrich der Heilige Vater das Prinzip der Unentgeltlichkeit, das nach seinem Dafürhalten im heutigen Wirtschaftsleben nicht zur vollen Entfaltung gelange. Der Papst argumentierte, dass sich dieses Prinzip in den göttlichen Gaben der Liebe und der Wahrheit manifestiert, ohne die menschliches Leben und echte Brüderlichkeit nicht möglich seien. Benedikt wies darauf hin, dass das Prinzip der Unentgeltlichkeit auch das Wirtschaftsleben prägt und viel gründlicher als heute gestalten würde, wenn man ihm nur die Möglichkeit gäbe, sich ungehindert zu entwickeln. Und er rief alle Menschen guten Willens auf, die große Herausforderung anzunehmen, „im Denken und Verhalten zu zeigen, […] dass in den wirtschaftlichen Beziehungen das Prinzip der Unentgeltlichkeit und die Logik der Gabe als Ausdruck der Brüderlichkeit ihren Platz im normalen Wirtschaftsleben finden können und müssen“. (CV 36)
Caritas in Veritate entfaltet dieses Thema in einigen Details. Die Botschaft ist stark und klar, was die spirituelle Dimension des Prinzips der Unentgeltlichkeit anbelangt. Sie ist weniger überzeugend, sobald der Heilige Vater sich der Anwendung in der Wirtschaftswelt zuwendet. Dort finden wir Aussagen wie die folgende:
Es bedarf […] eines Marktes, auf dem Unternehmen mit unterschiedlichen Betriebszielen frei und unter gleichen Bedingungen tätig sein können. Neben den gewinnorientierten Privatunternehmen und den verschiedenen Arten von staatlichen Unternehmen sollen auch die nach wechselseitigen und sozialen Zielen strebenden Produktionsverbände einen Platz finden und tätig sein können. Aus ihrem Zusammentreffen auf dem Markt kann man sich erhoffen, daß es zu einer Art Kreuzung und Vermischung der unternehmerischen Verhaltensweisen kommt und daß in der Folge spürbar auf eine Zivilisierung der Wirtschaft geachtet wird. Liebe in der Wahrheit bedeutet in diesem Fall, daß jenen wirtschaftlichen Initiativen Gestalt und Struktur verliehen wird, die den Gewinn zwar nicht ausschließen, aber über die Logik des Äquivalenzprinzips und des Gewinns als Selbstzweck hinausgehen wollen. (CV 38)
Es liegt auf der Hand, wie diese Darlegungen im Sinne der Sozialingenieure oder „Sozialklempner“ (wie Roland Baader sie nannte) ausgelegt werden können. Hier wird ganz offensichtlich das Gewinnstreben in Abrede gestellt und dem „sozialen Wirtschaften“ (also dem nicht gewinnstrebenden Wirtschaften) eine Lanze gebrochen. Nur letzteres könne „zivilisierend“ wirken, also den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Brüderlichkeit stärken. Das gewinnorientierte Unternehmertum vermag dies nach dem Dafürhalten des Papstes scheinbar nicht, denn es ist in der „Logik des Äquivalenzprinzips“ befangen. Dort, wo Gleiches mit Gleichem vergolten wird (oder doch zumindest vergolten werden sollte), dort hat die Unentgeltlichkeit ganz offensichtlich keinen Platz.
Aber wenn dem nun so wäre, wie soll dann jene Zivilisierung der Wirtschaft vorangebracht werden? Papst Benedikt erklärt es uns nicht. Er spielt den Ball einfach weiter, indem er die Gläubigen und alle anderen Menschen guten Willens auffordert, dieses Problem zu lösen. Er schreibt:
Vor uns liegt eine große Herausforderung […]: Wir müssen in unserem Denken und Handeln nicht nur zeigen, daß die traditionellen sozialethischen Prinzipien wie die Transparenz, die Ehrlichkeit und die Verantwortung nicht vernachlässigt oder geschwächt werden dürfen, sondern auch, daß in den geschäftlichen Beziehungen das Prinzip der Unentgeltlichkeit und die Logik des Geschenks als Ausdruck der Brüderlichkeit im normalen wirtschaftlichen Leben Platz haben können und müssen. (CV 36)
Mein heutiger Vortrag befasst sich mit genau dieser Frage. Die gegebene Redezeit erlaubt es nicht, eine umfassende Antwort zu geben, aber ich werde zunächst anhand einiger Beispiele darlegen, wie und warum „in den geschäftlichen Beziehungen das Prinzip der Unentgeltlichkeit […] im normalen wirtschaftlichen Leben Platz“ hat. Anschließend lege ich dar, warum diese grundlegende Tatsache in Lehre und Forschung der Standardökonomie nicht gebührend berücksichtigt wird, und zum Abschluss stelle ich einige Überlegungen zum Einfluss des Staates vor. Sehr viel mehr Einzelheiten finden sich in meinem demnächst erscheinenden Buch mit dem Titel die Wirtschaft und das Unentgeltliche (Manuscriptum, 2023).
Unentgeltliche Güter
Es gibt im normalen menschlichen Leben zahlreiche unentgeltliche Güter. Das betrifft nicht nur Liebe, Freundschaft und Leben. Unentgeltlich sind auch Sonnenschein, Wind, Fotosynthese und die Fruchtbarkeit des Bodens. Unentgeltlich sind die Gesetze der Natur, der Logik und der Mathematik.
Selbst wenn wir die wirtschaftlichen Güter betrachten, die der Mensch im Schweiße seines Angesichts erzeugen muss, werden sie recht häufig ohne die geringste Gegenleistung erbracht und von anderen erhalten. Man denke an Essen und Kleidung für kleine Kinder, an Hilfe für Behinderte und gebrechliche Senioren, an religiöse Feiern, Geburtstagsfeiern, Wohltätigkeit, Erbschaften, öffentliche Schulen, öffentliche Gesundheitsfürsorge und so weiter.
Außerdem gibt es eine große Klasse von unentgeltlichen Gütern in der Form von Nebeneffekt-Gütern. Von diesen Gütern ist nicht häufig die Rede, wenn die Vor- und Nachteile des Kapitalismus zur Sprache kommen, und doch scheint mir ihr Dasein einer der größten Vorzüge freier Gesellschaften zu sein.
In der Tat schwimmt eine freie Gesellschaft geradezu im unentgeltlichen Überfluss. Das ist nicht nur so, weil sie unvergleichlich produktiver ist als die mickrigen Wirtschaften mit Zentralplan und somit mehr Geld und Zeit spenden kann; sondern auch und vielleicht vor allem, weil es in einer freien Gesellschaft und im freien Markt unvergleichlich mehr Nebeneffekt-Güter gibt.
Tag um Tag verschafft jeder von uns zahlreichen anderen Menschen verschiedene Vorteile, z.T. auch materielle, ohne dass wir dafür bezahlt werden oder eine Bezahlung auch nur wünschen würden. Das ist zum Beispiel immer schon dann der Fall, wenn wir die Wahrheit sagen oder das Gesetz beachten. Natürlich tun wir das aus verschiedenen Gründen, von denen einige durchaus egoistisch sind. Wir wollen ehrenwerte Damen und Herren sein, wollen gesellschaftsfähig bleiben, wollen uns die Achtung unserer Kinder und Freunde erhalten. Aber das ändert nichts an drei grundlegenden Tatsachen, dass wir nämlich (1) durch unser Handeln anderen Menschen handfeste Vorteile entstehen, dass wir ihnen (2) diese Vorteile in der Regel vollkommen unentgeltlich verschaffen und dass wir (3) diese Vorteile für andere in den meisten Fällen überhaupt nicht in Betracht ziehen, da es uns nur auf die Vor- und Nachteile in Bezug auf unsere eigene Person (oder unsere Familie o.ä.) ankommt.
Heben wir diesen letzten Punkt noch weiter hervor. Solche unentgeltlichen Vorteile für andere entstehen spontan. Sie entspringen unserem Handeln, gewissermaßen als Nebenwirkungen, auch wenn sie nicht unbedingt geplant oder gewünscht sind. Wir wollen sie daher Nebenwirkungs-Güter nennen.
Friedrich August von Hayek hat im Rückgriff auf die schottische Aufklärung immer wieder auf die große Bedeutung der Nebenwirkungen des menschlichen Handels hingewiesen. Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Fortschritt ist nach seinem Dafürhalten zum großen Teil das „Ergebnis menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs“ (Hayek 1967; 1973, S. 20).
Nebeneffekt-Güter zeigen sich insbesondere auch im Fall von Beispielen. Während das menschliche Lernen nicht unentgeltlich ist, sondern mit Zeitopfern und Geldausgaben verbunden ist, sind die Beispiele, die uns die Natur und andere Menschen bieten, in der Regel unentgeltlich.
Einige Beispiele sind keine Nebeneffekt-Güter, sondern Spenden. Die moralische Erziehung von Kindern erfolgt durch das gute Beispiel der Eltern. Letztere bemühen sich bewusst darum, sich vor ihren Kindern gut zu benehmen. Solche Bemühungen sind Geschenke an die Kinder. (Anders die Beispiele, die ein Dozent in seinem Vortrag anführt. Diese werden vergütet.)
Aber viele andere Beispiele sind gar nicht als Geschenke gedacht. Sehr oft werden sie gegen den Willen derjenigen gegeben, aus deren Handeln sie entspringen. Alle Unternehmer verschaffen der Außenwelt kostenlos gute und schlechte Beispiele, sofern ihre Aktivitäten in irgendeiner Weise für die Außenwelt sichtbar sind. Zu beobachten, was die Konkurrenten tun – die erfolgreichen zu imitieren und die Misserfolge der anderen zu vermeiden – ist Brot und Butter des Wettbewerbs in allen Lebensbereichen.
Ein weiteres wichtiges Nebeneffekt-Gut ist in den Werteffekten von Tauschgeschäften zu sehen. In den Wirtschaftswissenschaften lernen Erstsemester die Begriffe „Konsumentenrente“ und „Produzentenrente“. Die meisten Verbraucher zahlen für die von ihnen gekauften Güter nicht ganz so viel, wie sie unter anderen Umständen zu zahlen bereit gewesen wären. Sie erzielen somit eine sogenannte Konsumentenrente. In ähnlicher Weise erhalten die meisten Produzenten einen höheren Preis als den, den sie unter schlechteren Wettbewerbsbedingungen (wenn auch zähneknirschend) hingenommen hätten. Sie erzielen eine Produzentenrente.
Dieses Phänomen betrifft jedoch nicht nur den Tausch von Konsumgütern. Es ist ein allgemeines Merkmal aller Tauschvorgänge. Wenn Schmidt seinen Apfel gegen Schultes Birne tauscht, dann bedeutet dies, dass Schmidt die Birne dem Apfel vorzieht, während Schulte den Apfel der Birne vorzieht. Beide Seiten profitieren bei diesem Geschäft. Der springende Punkt ist, dass die getauschten Güter nicht den gleichen Wert haben können. Der Apfel kann nicht den gleichen Wert haben wie die Birne, und die Birne kann nicht den gleichen Wert haben wie der Apfel. Vielmehr kommt im Apfel-Birnen-Tausch ein persönlicher Wertunterschied zum Tragen. Der Preis, den der Käufer zahlt, ist für ihn immer weniger wert als die Ware, die er erwirbt, und die beiden Waren haben für jeden der beiden Tauschpartner einen unterschiedlichen persönlichen Wert.
Die Werteffekte von Tauschgeschäften sind unter Ökonomen wie gesagt gut bekannt. Aber die meisten Nicht-Ökonomen denken, dass die getauschten Güter gleichwertig sind bzw. idealerweise gleichwertig sein sollten. Diese Sichtweise finden wir zum Beispiel in der Enzyklika Caritas in Veritate. Papst Benedikt XVI unterstellt hier, dass ein gerechter Tausch ein Tausch von gleichen Werten ist. Dieses Gleichwertigkeitspostulat, wie wir es nennen wollen, wird nicht in allen Einzelheiten dargelegt. Es ist implizit und schimmert in verschiedenen Äußerungen durch, vor allem in einer Passage, die wir einleitend zitiert haben, wo der Heilige Vater die innere Logik eines Markttausches zu einer „Logik des Äquivalenzprinzips“ herabsetzt. (CV 38)
Abschließend noch ein weiteres Beispiel: die Nebenwirkungen des Sparens und Investierens. Wenn mehr Ersparnisse investiert werden, wird Kapital weniger knapp, als es sonst gewesen wäre. Infolgedessen wird die Entlohnung des Kapitals am Markt – in Form von Zinsen und Gewinnen – tendenziell sinken. Da auf dem Markt alle Einheiten desselben Gutes tendenziell mit demselben Preis vergütet werden (Gesetz des einheitlichen Preises), werden alle Kapitaleinheiten, alte und neue, tendenziell weniger vergütet als zuvor. Dies bedeutet im Allgemeinen, dass der Anteil des Gesamteinkommens, der von den Kapitaleigentümern erwirtschaftet wird, im Verhältnis zu dem Anteil, der von denjenigen erwirtschaftet wird, die Arbeitsleistungen erbringen, sinkt.
Mit anderen Worten: Während die Sparer auf ihren eigenen laufenden Konsum verzichten und die Ungewissheit der Investitionen tragen, kommen die Vorteile weitgehend den anderen Marktteilnehmern zugute. Wenn die Ersparnisse steigen, erwirtschaftet das Kapital i.d.R. immer noch eine Rendite, aber jedenfalls weniger als zuvor. Die Sparer werden immer noch entlohnt, aber sie ernten nicht alle Früchte, die sie gepflanzt haben. Ein großer Teil des Nutzens kommt denjenigen zugute, die nichts zur Steigerung der Produktivität ihrer eigenen Arbeit beigetragen haben. Es ist der durch das Sparen induzierte Prozess der Kapitalakkumulation, der ihnen unentgeltlich wirtschaftliche Güter zur Verfügung stellt.
In vielen Fällen sind solche sparbedingten unentgeltlichen Leistungen ein dauerhaftes Vermächtnis zum Vorteil der nachfolgenden Generationen. Die Entwässerung von Sümpfen, der Bau von Gebäuden und Straßen und alle intellektuellen Errungenschaften früherer Generationen bringen den Lebenden über Generationen hinweg unentgeltliche Vorteile. Wir sind sozusagen Trittbrettfahrer auf den Planken, die unsere Vorfahren gelegt haben. In den Worten von Ludwig von Mises (1998 [1949], S. 481, 489), sind wir „die glücklichen Erben unserer Väter und Vorväter“.
Die verheerenden Folgen der Aristotelischen Theorie der Gerechtigkeit
Wir haben soeben anhand einiger Beispiele gesehen, wie und warum „das Prinzip der Unentgeltlichkeit […] im normalen wirtschaftlichen Leben Platz“ hat. Diese Tatsache ist von der allergrössten praktischen Bedeutung. Sie stellt einen ganz wesentlichen Vorteil einer jeden freiheitlichen, auf privaten Eigentumsrechten beruhenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung dar. Man sollte daher meinen, dass sie auch eine entsprechende Rolle in der volkswirtschaftlichen Lehre spielen würde. Genau das ist allerdings nicht der Fall. Vielmehr werden die zahlreichen unentgeltlichen wirtschaftlichen Güter, in deren Genuss die Teilnehmer einer Marktwirtschaft tagtäglich geraten, praktisch vollkommen ausgeblendet.
Warum ist das so? Aus Zeitgründen will ich hier nur auf den wichtigsten Grund zu sprechen kommen. Dieser Grund ist die Aristotelische Theorie der Gerechtigkeit, die das westliche Denken und vor allem auch die Volkswirtschaftslehre bis auf den heutigen Tag geprägt hat.
Aristoteles zufolge ist ein gerechter Tausch ein Tausch gleicher Werte. Wenn ich ein Brot in gerechter Weise um den Preis von drei Euro erwerbe, dann haben beide Tauschgüter den gleichen Wert. Der Wert des Brotes ist gleich dem Wert der drei Euros.
Das ist die „Logik des Äquivalenzprinzips“, von der in der zuvor genannten päpstlichen Enzyklika die Rede ist. Dem Papst zufolge ist jeder gerechte Markttausch seinem ganzen Wesen nach immer und überall ein Tausch gleicher Werte. Wenn dem aber so wäre, dann könnte es durch ein gerechten Marktgeschehen in der Tat keine Güter unentgeltlich übermittelt werden. Alle Güter, die im Tausch empfangen werden, werden auch durch gleichwertige Preise entlohnt. Der Markt wäre somit im Hinblick auf die Unentgeltlichkeit steril. Um dem vom Papst beschworenen „Prinzip der Unentgeltlichkeit“ Geltung zu verschaffen, müsste dieses dem Marktgeschehen durch geeignete Maßnahmen gewissermaßen von außen aufgestülpt werden.
Was aber hat Aristoteles mit der heutigen Volkswirtschaftslehre zu tun? Eine ganze Menge. In der Geschichte des ökonomischen Denkens gab es zahlreiche Entwicklungen, Wendungen und Revolutionen. Aber das aristotelische Gleichwertigkeitspostulat hat sie immer wieder überlebt. Es zeigte sich beispielsweise in der Preistheorie Adam Smiths, die auf dem Gedanken beruhte, dass der Wert von Produkten aus ihren Produktionskosten entspringt. Es zeigt sich auch im heutigen neoklassischen Modell des reinen und vollkommenen Wettbewerbs. Auch diesem Modell zufolge ist der wettbewerbliche Gleichgewichtspreis (also der Produktpreis) exakt gleich dem Preis aller Produktionsfaktoren.
Das setzt natürlich voraus, dass alle Produktionsfaktoren überhaupt entlohnt werden. Im Idealfall sollten daher alle Güter, die keine Geschenke sind, angemessen entlohnt werden. Für jedes von ihnen sollte es einen Markt geben (Postulat vollständiger Märkte). Idealerweise sollte jeder den Gegenwert dessen zahlen, was er erhält, es sei denn, er erhielte es geschenkt. Im heutigen Wirtschaftsjargon wird dieses Ideal als „erster Hauptsatz der Wohlfahrtsökonomie“ bezeichnet.
Nun stimmt die Wirklichkeit mit diesem Modell nicht überein. Wirtschaftliche Güter werden zumeist über oder unter den Kosten hergestellt oder verkauft. Ein offensichtlicher Fall sind die sogenannten positiven Externalitäten, im Alltagsdeutsch bekannt als Trittbrettfahrerei. Wenn beispielsweise ein Ladenbesitzer einen Wachdienst beschäftigt, der auf dem Bürgersteig vor seinem Geschäft für Sicherheit sorgt, so dient er auf diese Weise nicht nur seinen eigenen Interessen, sondern auch allen benachbarten Läden und den Passanten, ohne dass er von diesen Nutznießern eine Entschädigung erwarten kann. Solche Fälle des Trittbrettfahrens werden nun in der ökonomischen Neoklassik als Marktversagen angesehen. Sie werden somit aus dem normalen und gesunden Marktgeschehen herausdefiniert. Sie sind eine pathologische Erscheinung, die es durch staatliches Handeln zu bekämpfen gelte.
Mehr als jedes andere Element des modernen Wirtschaftsdenkens hat diese Denkweise die Ökonomen für einen der größten Vorteile des Marktprozesses blind gemacht. Anstatt die Tatsache zu würdigen, dass der Austausch auf dem Markt zahlreiche und bedeutende unbezahlte Vorteile sowohl für die Austauschpartner als auch für Dritte mit sich bringt, haben Ökonomen diese Eigenschaft verunglimpft und sogar versucht, sie durch staatlichen Zwang zu „korrigieren“.
Die Konsequenzen der staatlichen Interventionen für unentgeltliche Güter
Abschließend will ich in der gebotenen Kürze auf die Folgen zu sprechen kommen, die aus staatlichen Eingriffen für die Wirtschaft unentgeltlicher Güter entstehen.
Dem Wohlfahrtsstaat ist es bekanntermaßen möglich, seinen Schützlingen Güter unentgeltlich zu verschaffen. Aber die Finanzierung dieser Güter erfolgt durch Zwangszahlungen an den Staat, und daraus entspringen negative Folgen für die Realeinkommen aller Marktteilnehmer. Es ist also fraglich, ob der Wohlfahrtsstaat die materielle Wohlfahrt seiner Schützlinge fördert.
Klar ist hingegen, dass der Interventionismus einen negativen Einfluss auf privatwirtschaftliche Spenden hat. Staatliche Eingriffe schwächen nicht nur die Spendenfähigkeit (durch ihren negativen Einfluss auf die gesamtwirtschaftliche Produktion), sondern auch die Spendenbereitschaft. Dabei spielt die staatliche Geldpolitik eine weithin verkannte, aber besonders wichtige Rolle.
Denn die aus der Notenpresse finanzierte Stabilisierung der Finanzwirtschaft führt dazu, dass der Sättigungsprozess der Kapitalakkumulation außer Kraft gesetzt wird. Ohne staatliche Eingriffe würde die Kapitalrendite sinken, wenn bei wachsendem Vermögen immer mehr Kapital investiert wird. Dieser Rückgang könnte zwar ganz oder teilweise durch eine größere finanzielle Hebelwirkung bei niedrigen Zinsen ausgeglichen werden, doch würden die meisten Anleger die Hebelwirkung meiden, da sie auch die Liquiditäts- und Insolvenzrisiken erhöht. Daher führt die Kapitalakkumulation unter normalen Umständen zu immer niedrigeren Kapitalrenditen. Die Verwendung von Ersparnissen als Kapital wird zunehmend entmutigt, und immer mehr Ersparnisse landen in Spenden und anderen gemeinnützigen Verwendungen.
Doch diese natürlichen Tendenzen verkehren sich in ihr Gegenteil, wenn die Behörden finanzielle Hebelstrategien aus der Notenpresse und mit Steuergeldern subventionieren. Wenn sie Kredite zu niedrigen Zinssätzen vergeben und außerdem Investoren retten, die kurz vor der Zahlungsunfähigkeit stehen, dann werden die natürlichen Grenzen gehebelter Investitionen zerstört und der Sättigungseffekt der Kapitalakkumulation verschwindet. Die Behörden stellen auf diese Weise eine Rationalitätsfalle auf. Die Sparer bzw. die Investoren haben nun materielle Anreize, ihre gesamten persönlichen Ersparnisse in Kapital zu verwandeln. Obwohl sie immer weniger sparen, werden sie dafür belohnt, dass sie einen immer größeren Teil dieser verminderten Ersparnisse in gewinnorientierte statt in nicht gewinnorientierte Projekte investieren.
Hinzu kommt, dass die staatlichen Eingriffe in die Währungsordnung die unentgeltlichen Nebeneffekt-Güter des Marktprozesses außer Kraft setzen und zum Teil in ihr Gegenteil verkehren. Vorhin habe ich darauf hingewiesen, dass Sparer bei unbehindertem Marktgeschehen nicht alle Früchte ernten, die sie gepflanzt haben. Ein großer Teil ihres Sparfleißes kommt Arbeitnehmern zugute, die nichts zur Steigerung der Produktivität ihrer eigenen Arbeit beigetragen haben. Es ist der durch das Sparen induzierte Prozess der Kapitalakkumulation, der diesen abhängig Beschäftigten unentgeltlich wirtschaftliche Güter zur Verfügung stellt.
Anders liegen die Dinge, wenn infolge staatlicher Eingriffe die Geldmenge ständig soweit aufgebläht wird, dass daraus positive Preisinflationsraten entspringen. Genau das war seit dem Zweiten Weltkrieg immer der Fall, und somit entsteht für Sparer die Notwendigkeit, ihre Ersparnisse vor dieser Preisinflation zu schützen. Das führt dazu, dass möglichst alle Geldersparnisse investiert werden, und bei der Investition kommt es zu einer Verschiebung der relativen Wertschätzung von Arbeit. In einem preisinflationären Umfeld verliert die Arbeit im Vergleich zu langlebigen materiellen Gütern tendenziell an Bedeutung. Ihr subjektiver Wert nimmt in den Augen aller Marktteilnehmer ab. Der Grund ist, dass die Arbeit ein nicht-haltbares Gut ist. Sie kann nicht gehortet und gelagert werden und hilft daher nicht bei der Flucht in die Sachwerte. Umgekehrt steigen die Preise von Immobilien und Aktien relativ zu dem Preis, den sie ohne Preisinflation gehabt hätten, und auch relative zu den Preisen aller weniger langlebigen Güter, wie z.B. Arbeit.
Somit lässt sich sagen, dass die Geldpolitik der Nachkriegszeit einen Teil der unentgeltlichen Vermögenseffekte zerstört hat, und das zu Lasten aller Menschen, die in erster Linie von ihrer Arbeit leben.
Wirtschaftliche Freiheit ist nicht die Ursache von Kaltherzigkeit
Kommen wir zum Schluss.
Wie wir sahen, ist eine freie Wirtschaft von verschiedenen Formen unentgeltlicher Güter geradezu durchdrungen ist, die sich als Nebeneffekte von Handlungen einstellen, die nicht direkt (oder auch gar nicht) darauf abzielen, anderen Menschen irgendwelche Güter kostenlos zu verschaffen. Insbesondere der wettbewerbliche Marktprozess selbst ist eine wichtige Quelle solcher Nebeneffekte, die vor allem aus dem Sparen und dem Preisbildungsprozess resultieren.
Hingegen können Staatseingriffe keine wirklich unentgeltlichen Güter erbringen. Sie behindern auch die private Wirtschaft des Schenkens, fördern den Missbrauch von Geschenken und erleichtern die künstliche und erzwungene Privatisierung von Nebeneffekt-Gütern.
Diese Schlussfolgerungen sind nach den Maßstäben des heutigen Stands der Wissenschaft recht originell. Diese Originalität ist jedoch größtenteils darauf zurückzuführen ist, dass die meisten Autoren, die sich zu diesen Fragen äußern, die Nebenwirkungen des Marktaustauschs und insbesondere das Wesen und die Auswirkungen des staatlichen Interventionismus entweder gar nicht oder nur schlecht kennen. Viele von ihnen glauben, dass wirtschaftliche Freiheit zu Verantwortungslosigkeit, Gleichgültigkeit, Kaltherzigkeit und schroffem Individualismus führt. Und es besteht kein Zweifel daran, dass wir diese Probleme in unserer heutigen Welt reichlich antreffen. Aber wirtschaftliche Freiheit ist nicht ihre Ursache.
Jörg-Guido Hülsmann ist Professor für Ökonomie an der Université d’Angers und Akademischer Beirat des Liberalen Instituts.
Dieser Vortrag wurde am 10. Juni 2023 an den Hayek-Tagen in Erfurt gehalten.