Das Corona-Regime liegt hinter uns. Aber das Schema, auf dem dieses Regime basierte, setzt sich mit dem Klima-Regime und dem Regime der Bevorzugung angeblich unterdrückter Minderheiten (so genannte Wokeness) fort. Das Schema ist dieses: Die Menschen werden unter Generalverdacht gestellt, mit ihrem alltäglichen Handeln andere zu schädigen. Mit jeder Form von direktem sozialen Kontakt könnte man zur Verbreitung von Viren beitragen; mit jeder Form von Energieverbrauch könnte man zum Klimawandel beitragen; mit jeder Form sozialen Verhaltens könnte man in irgendeiner Weise Angehörige einer in der Geschichte unterdrückten Minderheit verletzen. Von diesem Generalverdacht wäscht man sich rein, indem man sich einer totalen Regulierung nicht nur der sozialen Beziehungen, sondern auch des Privatlebens fügt.
Wir haben es hier mit einem umfassenden Trend zu tun. Dieser Trend speist sich aus dem Zusammenspiel der folgenden vier Faktoren:
- politischer Szientismus: Szientismus ist die Lehre, dass das Wissen, das die moderne Naturwissenschaft entwickelt, auch das menschliche Denken und Handeln umfasst. Politisch ist der Szientismus, wenn in Analogie zur technischen Ingenieurskunst auch eine soziale Ingenieurskunst zur „wissenschaftlichen“ Steuerung der Lebensbahnen der Menschen entwickelt wird und damit die Grenze zwischen Informationen über Fakten und Vorgabe von Normen und Werten überschritten wird. Im allgemeinen werden die politischen Szientisten innerhalb der Wissenschaft durch die üblichen wissenschaftlichen Qualitätskontrollen ausgebremst. Der Trend, den wir jetzt erleben, zeichnet sich durch das Versagen der innerwissenschaftlichen Kontrollmechanismen und Mitläufertum der meisten Wissenschaftler aus.
- intellektuelle Postmoderne und Postmarxismus: Gemäss den postmodernen und postmarxistischen Intellektuellen ist der Gebrauch von Vernunft jeweils an eine bestimmte Kultur, Religion, Ethnie, Geschlecht, sexuelle Orientierung usw. gebunden. Das Resultat dieser Relativierung ist, dass nicht mehr gleiches Recht für alle gilt, sondern bestimmte Gruppen zu bevorzugen sind. Ebenso gilt in der Wissenschaft nicht mehr nur, was jemand sagt, sondern auch, wer es sagt. Die Konsequenz ist, dass Vernunft als Mittel entfällt, um die Ausübung von Macht zu beschränken. Vernunft als Instrument zur Begrenzung von Macht steht und fällt mit dem Universalitätsanspruch des Vernunftgebrauchs, der gleiche für alle Menschen zu sein. Das Resultat ist, dass ein subjektiver Standpunkt allen aufgezwungen wird, nämlich der Standpunkt, hinter dem die jeweils einflussreichste Gruppe steht.
- Wohlfahrtsstaat: Der moderne Rechtsstaat setzt gleiches Recht für alle durch, indem seine Organe jeden Menschen vor Übergriffen auf Leib, Leben und Eigentum schützen. Dazu verfügen die Staatsorgane (i) über das Gewaltmonopol auf dem jeweiligen Territorium (Exekutivgewalt) und (ii) das Monopol der Rechtsetzung und Rechtsprechung (Legislative, Judikative). Diese Machtkonzentration verführt jedoch ihre Träger – insbesondere Politiker – dazu, die Gewährleistung von Schutz immer weiter auszuweiten bis hin zu Schutz vor allen möglichen Lebensrisiken und neuerdings sogar Schutz vor der Verbreitung von Viren, vor Klimawandel und vor Meinungen, die die Gefühle mancher lautstarker Gruppen verletzen könnten.
- Staatskapitalismus: Gegeben die genannte Machtkonzentration bei der Staatsgewalt ist es für Unternehmer zweckrational, ihre Produkte als Beitrag zum Allgemeingut darzustellen und staatliche Unterstützung zu verlangen. Das Ergebnis ist der Staatskapitalismus: Die Gewinne sind privat. Die Risiken werden auf die Steuerzahler abgewälzt. Wenn sich Unternehmen dann noch die jeweilige Ideologie des politischen Szientismus zu eigen machen, können sie dieses Geschäftsmodell auf die Spitze treiben: direkte Abnahme ihrer Produkte durch die Staatsorgane auf Kosten der Allgemeinheit, der diese Produkte regelrecht aufgezwungen werden, ohne dass die Unternehmen für eventuelle Schäden haften müssen. Diese Perversion des Kapitalismus und der Marktwirtschaft haben wir bei den Corona-Impfstoffen erlebt. Diese Perversion wiederholt sich bei so genannten nachhaltigen Energieträgern.
Das Corona-, Klima- und Wokeness-Regime sind Ausdruck des mächtigen Trends, der sich sich aus dem Bündnis der Kräfte des Wohlfahrtsstaates und des Staatskapitalismus einerseits mit den Kräften des politischen Szientismus und der Ideologie der postmarxistischen, intellektuellen Postmoderne andererseits ergibt.
Die Illusion einer gefestigten offenen Gesellschaft
Aber wieso konnte sich ein solcher Trend durchsetzen? Unter der Annahme, dass wir bisher weitgehend in einer offenen Gesellschaft und einem republikanischen Rechtsstaat gelebt haben, gibt es keine Erklärung dafür, wieso dieser Trend die offene Gesellschaft in eine Gesellschaft überführen kann, die unter einem kollektivistischen Narrativ geschlossen ist, und sich die Institutionen dessen, was bisher ein Rechtsstaat zu sein schien, diesem Narrativ unterordnen.
Ändern wir daher die Perspektive: Es war eine Illusion zu glauben, dass wir bis Frühjahr 2020 in einer gefestigten offenen Gesellschaft und einem republikanischen Rechtsstaat gelebt haben. Dies war nur deshalb so, weil das bis 1989 vorherrschende anti-kommunistische Narrativ eine relativ offene Gesellschaft und einen relativ gut funktionierenden Rechtsstaat erforderte. Mit dem Ende dieses Narrativs infolge des Zusammenbruchs des Sowjetimperiums war daher zu erwarten, dass ein neues kollektivistisches Narrativ an seine Stelle treten wird und die Säulen der offenen Gesellschaft und des Rechtsstaats, die als Abgrenzung zum Sowjet-Kommunismus bestanden, hinwegfegen wird.
Wegen des Mangels anderer mächtiger Staaten, von denen es sich abgrenzen kann (Nationalismus, Anti-Kommunismus) muss dieses Narrativ wiederum angebliche Wissenschaft zu seiner Legitimation heranziehen (politischer Szientismus) und sich die Form des verbesserten Schutzes vor Lebensrisiken geben – bis hin zu Schutz vor Viren, vor Klimawandel, vor Meinungen, die die Gefühle lautstarker Personen verletzen können (Wokeness). Damit knüpft dieses Narrativ oberflächlich an die bestehende offene Gesellschaft an, transformiert diese jedoch in ihr Gegenteil, nämlich in ein System totaler sozialer Kontrolle. Kurz, der Wohlfahrtsstaat muss sich ein anderes Betätigungsfeld suchen, das er in dem genannten globalistischen und szientistischen Narrativ findet. Das ist die Erklärung für die Entwicklung, die seit dem Frühjahr 2020 offensichtlich geworden ist: Diese Entwicklung ist schlicht und einfach das, was zu erwarten war.
Der republikanische Rechtsstaat als untaugliches Mittel
Wenn wir die Gründe für diese Entwicklung erkannt haben, dann haben wir es in der Hand, diese Entwicklung zu stoppen. An der Idee der offenen Gesellschaft, die das Recht auf Selbstbestimmung von jedem respektiert und die daher jedem Narrativ von einem kollektivistischen allgemeinen Gut, das die Gesellschaft zusammenhält, entgegensteht, ist nichts falsch. Der Fehler besteht darin, diese Gesellschaft in einen republikanischen Rechtsstaat fassen zu wollen, der (i) über das Gewaltmonopol und (ii) das Monopol der Rechtsetzung und Rechtsprechung verfügt. Durch die damit verbundene Machtfülle in den Händen der Träger dieser Staatsgewalt wird der Mechanismus in Gang gesetzt, der zu den kollektivistischen Narrativen und zum Totalitarismus führt, wenn diese Narrative durch angebliche Wissenschaft gestützt werden, die uns zum angeblich allgemein Guten hier und jetzt führt. Aber auch die offene Gesellschaft ist auf ein positives Narrativ der Freiheit und Selbstbestimmung angewiesen. Als offene Gesellschaft muss sie jedoch offen in Bezug darauf sein, wie – und damit durch welche Werte – dieses Narrativ begründet wird.
Wir haben eine offene Gesellschaft noch gar nicht verwirklicht, weil die Verbindung zwischen offener Gesellschaft und republikanischem Rechtsstaat die offene Gesellschaft unterminiert. Die offene Gesellschaft kann nur ohne Herrschaft nach Innen im Sinne eines Staates mit Monopol der Gewalt und der Rechtsetzung und Rechtsprechung bestehen. Eine solche Gesellschaft können wir mit den Menschen so, wie sie sind, schaffen, wenn man sie nur lässt und wenn man den kollektivistischen Narrativen etwas Positives und Konstruktives entgegenstellt. Insofern bin ich optimistisch für die Zukunft.
Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine Zusammenfassung des Beitrags „Die Illusion der res publica“, erscheint in Hrvoje Juriæ und Marcus Knaup (Hgg.): Leben in postpandemischen Zeiten, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Herbst 2023