Wer sich selbst liebt, der ist mit sich und anderen Menschen im Reinen. Wer zunächst an sich denkt, kann anschließend auch an andere Menschen denken. Wer sich mit sich selbst als Individuum beschäftigt und in anderen Menschen Mitmenschen sieht, der kann in individuellen, persönlichen statt kollektiven, abstrakten Kategorien auf die Welt blicken. Wer sich erkennt, sieht Konflikte nicht zuletzt als Konfrontationen mit sich selbst.
Genau das tun Liberale. Sie schauen auf sich und um sich und sie sehen individuelle Menschen, nicht Kollektive, die nach Nation, Rasse, Geschlecht, Ökobilanz, Impfstatus oder Wohlstand kategorisiert werden. Damit fällt es schwerer, andere Menschen geschweige denn Menschengruppen zu hassen oder diese als unselbständig, betreuungsnotwendig und verführbar zu betrachten.
Der Liberale denkt so: Jeder Mensch ist seines eigenen Glückes Schmied. Jeder Mensch hat seine persönlichen Fähigkeiten und kann die sich ihm bietenden Möglichkeiten nutzen. Die Fähigkeiten unterscheiden sich, lassen sich mit anderen kombinieren, so dass sich Menschen ergänzen und zusammen mehr erreichen. Das gilt für den Beruf und für die Familie, für die Nachbarschaft und die Freizeit, ob handwerklich oder geistig, künstlerisch oder kulinarisch.
Allerdings bleibt keine Wahl ohne Reue. Sei es, dass jeder Mensch die Konsequenzen seines Handelns selbst verantwortet, sowohl im glücklichen Fall eines Erfolgs als auch im weniger glücklichen Verlauf eines Misserfolgs. Außerdem bietet sich häufig eine Wahlalternative und diese erscheint zuweilen vorteilhafter zu sein. Das kann selbst die Partnerwahl einschließen. Die Kosten einer jeder neuen Wahlentscheidung bestehen darin, etwas anderes nicht gewählt zu haben. Dennoch kann nur der einzelne Mensch selbst seine Bedürfnisse verfolgen. Vermeintlich besserwissende Dritte können allenfalls beraten, aber nicht den inneren Abwägungsprozess treffend imitieren. Bei der Partnerwahl ist das offenkundig, gilt aber genauso für Konsumgüter. Das Wert schätzen, das Bilden von Präferenzen und Rangfolgen ist ein zutiefst individueller Akt. Nudging hat folglich keinen Platz im liberalen Weltbild. Erst die Schädigung anderer berechtigt zum Eingreifen in individuelles Handeln.
Nüchtern, ehrlich, klar, unparteiisch
Liberalsein ist kein Versprechen. Liberale versprechen weder, dass jeder Mensch sich optimal entwickeln kann, noch dass es hinreichende Bedingungen geben muss oder auch nur geben könnte, damit sich jeder Mensch in Freiheit gut entwickeln kann. Liberale sind Realisten. Hindernisse und mangelnde Realisierungsmöglichkeiten lauern in vielen Leben und an vielen Ecken. Das ist eine nüchterne, aber ehrliche Haltung. Es wäre naiv zu glauben, weil wir etwas besser tun könnten und weil wir es einfach fordern, würde es auch so kommen. Eine Weltanschauung oder eine Lebenshaltung, die jedermann tatsächliches Glück und Wohlfahrt in Aussicht stellen, ist verführerisch, unrealistisch und unehrlich. Liberalismus ist kein Betreuungswerk für die Massen. Gleichwohl gilt, was Ludwig von Mises 1927 betonte:
„Der Liberalismus hat immer das Wohl des Ganzen, nie das irgendwelcher Sondergruppen im Auge gehabt.“
Deshalb sind Liberale Anhänger freiwilliger Solidarität – anders ist es aus liberaler Perspektive gar nicht möglich, denn befohlene oder moralisch erpresste Solidarität mit einer heute zumeist als Opfer deklarierten Gruppe ist lediglich schlecht kaschierter Gruppenegoismus. Außerdem gilt für Liberale: Man mischt sich nicht in die Angelegenheiten anderer Menschen ein. Und: Man muss nicht von anderen Menschen gemocht werden. Freiheit bedeutet auch, die Freiheit von anderen Menschen nicht gemocht zu werden.
Ein Blick auf die jährlich erscheinenden Freiheitsindices zeigt, dass es allen Menschen, gerade den Ärmsten, in den freiesten Gesellschaften am relativ besten geht. Das gilt überwiegend auch in kleinen Staaten. Liberale fragen: Wie viel besser würde den Menschen in einer wirklich freien Gesellschaft gehen?
Im Übrigen wird in politisch autoritären Systemen mit hohen wirtschaftlichen und sozialen Freiheitsgraden der zunehmende Wohlstand nicht von privilegierten Parteikadern und Regime treuen Bürokraten erarbeitet. Wohlstand entsteht dort trotz autoritärer politischer Führung. Schließlich weisen Liberale nüchtern auf den Fortschritt hin, also den zeitlichen Vergleich von Wohlstandsniveaus. Das Ergebnis: Die Superreichen im Jahr 1900 hatten einen Lebensstandard, den heute fast jedermann hat. Nicht Verteilung, sondern Entwicklung ist die angemessene Perspektive.
Individuelle Freiheit, individuelles Handeln
Für den Liberalen kann nur das Individuum handeln. Dabei gilt, was der führende Managementtheoretiker und -praktiker Reinhard K. Sprenger zeitlos treffend wie folgt formulierte:
„Was den ‚freien Menschen’ ausmacht, ist nicht die Maximierung seiner Möglichkeiten, sondern das Bewusstsein seiner Wahlentscheidungen und die Bereitschaft, Verantwortung für die Konsequenzen dieser Entscheidungen zu übernehmen, die Kosten, die mit jeder Wahl verbunden sind, anzuerkennen. Während äußere Freiheit eine Größe ist, die sich aus rechtlichen, sozialen und politischen Umständen zusammensetzt, beschreibt innere Freiheit einen Zustand, in dem der Mensch seine eigenen ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzt, um auszuwählen. Darin liegt seine Freiheit. Und mit ihr die Voraussetzung für ein gelingendes Leben.“
Freiheit ist die erste und nicht ersetzbare Voraussetzung für ein gelingendes Leben. Ohne Freiheit ist alles Handeln nichts. Ich komme darauf später ausführlicher zurück.
Liberalsein setzt lediglich „ein gewisses Minimum an Fähigkeit voraus, zu lernen und vorauszudenken und sich durch eine Kenntnis der Folgen des Handelns leiten zu lassen.“ wie der Sozialphilosoph und Ökonom Friedrich August von Hayek in seiner Verfassung der Freiheit schrieb. Jeder kann also liberal werden, wie Hunderttausende einfache Menschen Mitte des 19. Jahrhunderts, die auf Marktplätzen und in Versammlungshallen in England, angeführt von den Manchesterkapitalisten, mit der Anti-Getreidezoll-Liga für Freiheit und gegen Privilegien eintraten.
Freiheit als Prinzip
Freiheit ist ein Wert. Für Liberale ist es der höchste Wert. Allerdings sehen sie ihn nicht nur als Wert, sondern als Ordnungsprinzip von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Liberale sind überzeugt, dass in einer Ordnung der Freiheit jedes Individuum nach seiner Wertefacon leben und glücklich werden kann. Da Werte Teil einer heteronomen Moralvorstellung sind, gehen Liberale nicht mit Werten hausieren. Inzwischen ist es allerdings längst überfällig, leidenschaftlich Freiheit zu predigen. Und sei es nur, um die Freiheitserosion zu verlangsamen. Solange die Individuen sich und ihre Freiheitssphäre achten, ist Platz für unterschiedliche Werte nebeneinander.
Das bedeutet indes nicht, dass damit über den Menschen aus liberaler Perspektive alles gesagt wäre oder es bei einer abstrakten Ordnung freier Individuen bliebe, die isoliert nebeneinander leben. Vielmehr lassen sich mit Kant liberale Ansprüche an einen Menschen formulieren. Diese bestehen nicht aus konkreten Werten, sondern in einem Entwicklungsanspruch: Der selbständig denkende und handelnde Mensch ist das Leitbild. Ein derart aufgeklärter Mensch zeichnet sich durch charakterliche Leistungen aus. Ein Charakter wird geformt. Am Anfang steht das Disziplinieren in der Erziehung. Der Mensch soll nicht Opfer seiner Launen werden, sondern die Fähigkeit entwickeln, selber Ziele, Mittel und Wege für sein eigenes Leben zu wählen. Wem das zu abstrakt klingt, der sei auf das Supermodell Giselle Bündchen verwiesen, deren Lebenslehren in Buchform mit dem alles überragenden Kapitel Disziplin beginnen. Oder schauen Sie sich die Erfolgsgeschichten von Sportlern gerade aus einfachen Verhältnissen an.
Dem Disziplinieren folgt das Kultivieren, das ist das Erlernen der Grundkenntnisse wie Lesen, Schreiben, Rechnen und von zeitlosem Grundwissen. Ziel ist es, offen sein zu können, für das, was sich in einer stetig verändernden Welt bietet.
Der dritte Schritt ist das Zivilisieren. Damit ist der Bürger gemeint, der ökonomisch auf eigenen Füßen steht, sich bildet und ausgebildet wurde, der arbeitet und seine Freizeit genießt. Der Bürger ist mehr als ein Staatsbürger, nämlich ein Teil der res publica, der politischen Öffentlichkeit, die zunächst ohne Staat auskommt.
Schließlich gehört viertens eine (freiheitliche) Moral zum selbständig denkenden Menschen dazu. Mit Otfried Höffe heißt das: „Ehrlichkeit, Fairness, Mitgefühl und soziale Verantwortung.“ Nicht minder wichtig seien Charaktereigenschaften für ein erfolgreiches Leben, vor allem Kooperation und Konkurrenz. Menschen erfreuen sich an ihren Leistungen. Leistung macht glücklich. Selbst das Glück liegt im Handeln des Menschen, im Flow des Aktivseins, in das wir uns vertiefen und unsere Aufmerksamkeit ganz der Aufgabe widmen, welche auch immer das ist. Schließlich liegt Glück in der Freude, nicht im Vergnügen.
Freiheit, Selbstständigkeit, Verantwortung
Selbstständigkeit und selbständige Menschen verkörpern geradezu das Liberalsein. Selbständigkeit und Eigenverantwortung gehören zusammen. Selbständige sind unabhängig und organisieren Arbeit effizient und effektiv. Als Unternehmer wagen sie Neues, entdecken andere und neue Wege. Sie unternehmen und engagieren sich für etwas, und sei es im Kleinen, sehr alltäglich. Unternehmer verbessern das Leben ihrer Mitmenschen. Selbständige Menschen bilden das Fundament einer fruchtbaren Gesellschaft. Ohne Selbständige gibt es keine freie Gesellschaft. Wenn es nur Staatsdiener und Konzerne mit Tarifangestellten sowie Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen gibt, steht der bürokratische Autoritarismus nicht mehr nur in der Tür.
Bei aller Selbstständigkeit gehen Liberale von unvollkommenen Menschen aus. Der Liberalismus ist eine Ordnung für unvollkommenen Menschen. Der Soziologe Erich Weede schrieb:
„Offensichtlich ermöglicht nur individueller Freiraum und nicht die Verklärung des Konsenses Innovationsspielräume oder die Chance zur Überwindung von Irrtümern oder unwirtschaftlichen Produktionsweisen.“
Zur Unvollkommenheit gehört auch die Akzeptanz, dass wenn nicht alle Probleme, dann mindestens sehr viele Probleme, zwischenmenschlich sind.
Das Individuum ist für Liberale nie allein. Jeder einzelne Mensch ist das Maß aller Dinge. Kooperation entwickelt sich von selbst. Das ist praktisch, theoretisch, auch spieltheoretisch, hinlänglich bewiesen. Die Ethik der Kooperation ist essentieller Bestandteil einer freien Gesellschaft, die keine politischen Grenzen kennt.
Da die eigene Freiheit eines jedes Menschen zugleich Teil der großen Freiheit aller Mitmenschen ist, besitzt die individuelle Mäßigung eine wesentliche Bedeutung. Wer sich mäßigt, tut das, weil es ihm guttut und weil es im Leben mit anderen Menschen sinnvoll ist.
Dieser Beitrag von Michael von Prollius ist ein Auszug aus seinem Buch Ein liberales Manifest: Sieben Prinzipien und einige Klarstellungen (edition g). Die Veröffentlichung beim Liberalen Institut erfolgt mit freundlicher Genehmigung.