Demokratisch beschlossene Rauchverbote, Werbeverbote und Verkaufsverbote, dazu kommen staatlich verordnete Aufklärungskampagnen und neuerdings die Planung eines «Instituts für Prävention und Gesundheitsförderung»: die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung und der Staat arbeiten in der Gesundheitspolitik Hand in Hand. Fast scheint es, als habe die Schweiz eine neue Passion entdeckt: die kollektive gesundheitliche Selbstreinigung. Freunde des Tabaks, des Alkohols und zuletzt auch des zucker- und fetthaltigen Essens haben es nicht leicht in diesen Tagen.
Vernünftigerweise kann kaum bestritten werden, dass ein Übermass an Alkohol, Fett oder Cholesterin den Körper und die Gesundheit belastet. Ist es also ein Wunder, wenn gesundheitsgefährdenden Konsumgewohnheiten auf allen Ebenen des Staates politischer Missmut entgegenschlägt? Dennoch wirkt die neue allumfassende Gesundheitsbegeisterung des Stimmvolks und seiner Vertreter befremdlich. Warum beginnen die Wahlbürger, sich gleichsam selbst zu erziehen? Misstrauen sie der eigenen Schwäche angesichts eines verlockenden Glases Bier, einer knallbunten Süssigkeit oder einer knisternden Zigarre? Stellt der kollektive Aufstand gegen den Konsum gar eine Art Selbstgeisselung dar?
Doch was bedeutet schon genau «die Wahlbürger»? Geisseln diese sich tatsächlich selbst, oder doch eher einander? Der neu entdeckte kollektive Kampf gegen die Konsumsünden verdeutlicht eine Eigenheit der Demokratie: die Mehrheit der Entscheidenden ist nicht notwendigerweise auch eine Mehrheit der Betroffenen — oder auch nur der Interessierten. Die demokratischen Mehrheiten, auf die sich Werbe-, Verkaufs- und Konsumverbote stützen, bestehen weniger aus reuigen Rauchern, Trinkern und Schleckermäulern als aus einer kleinen Anzahl Missmutiger in Koalition mit einer breiten Masse an Gleichgültigen. Denn tatsächlich ist es völlig ausreichend, wenn die Masse der Wahlberechtigten nur denkt: «Mich betrifft es ja nicht — ich brauche nicht in einem Restaurant zu rauchen/an einer Tankstelle Alkohol zu erwerben/Süssigkeiten an Kinder zu verkaufen», und schon ist das nächste Verbot geboren. Die Prohibition feiert ein ungeahntes Revival — sauber und demokratisch legitimiert.
Die eskalierende Verbotswut der Bevölkerung erinnert dabei zunehmend an ein amerikanisches Sprichwort: «Why do dogs lick their balls? Because they can.» Weil sie es können. Braucht es eine bessere Begründung eines Verbots? Und wenn einmal Taten pönalisiert werden, die faktisch nicht die Rechte anderer verletzen, wenn also das Schaffen «opferloser Verbrechen» zum politischen Normalfall wird, warum sich dann auf Alkohol, Tabak und Zucker beschränken? Wie oft gehen Bürger nicht nachlässig mit ihrem eigenen Körper um. Warum also nicht auch das Skifahren verbieten? Gefährlich ist es zweifellos. Oder das Radfahren? In einer Demokratie, die jede Verhaltensweise zur Disposition stellt, nur weil sie den Missmut anderer erregt, bleibt dem Bürger letztlich nur die Hoffnung, dass eine Mehrheit der Wähler eine Begeisterung für seine persönlich bevorzugte Freizeitbeschäftigung teilt — ansonsten muss er wohl lernen, auf sie zu verzichten.
Diese Dynamik ist alles andere als neu. Der österreichische Nationalökonom Ludwig von Mises schrieb bereits 1927: «Wenn grundsätzlich der Mehrheit der Staatsangehörigen das Recht zugestanden wird, einer Minderheit die Art und Weise, wie sie leben soll, vorzuschreiben, dann ist es nicht möglich, bei dem Genusse von Alkohol, Morphium, Opium, Kokain und ähnlichen Giften Halt zu machen. Warum soll das, was für diese Gifte gilt, nicht auch von Nikotin, Coffein und ähnlichen Giften gelten? Warum soll nicht überhaupt der Staat vorschreiben, welche Speisen genossen werden dürfen, und welche, weil schädlich, gemieden werden müssen?» In der Tat, warum nicht? Vielleicht, weil der Konsens der aufgeklärten Demokratie stets darin bestand, dass der Staat die Rechte des Bürgers ausschliesslich vor Übergriffen Dritter zu schützen hat. Nur solche Taten also, die die Rechte anderer handfest verletzen, sind danach zu unterbinden. Wenn aber Verbote schon den unpfleglichen Umgang mit dem eigenen Körper treffen, so impliziert dies, dass dieser faktisch nicht mehr dem Individuum, sondern der Gemeinschaft gehört. Ein Abschied von der Aufklärung.
Die freiheitliche Demokratie bedarf daher selbstbewusster, ja disziplinierter Bürger, die den Verlockungen gut gemeinter Verbote widerstehen, die auch die anstössigen Eigenheiten ihrer Mitbürger tolerieren. Wiederum Ludwig von Mises: «Ein freier Mensch muss es ertragen können, dass seine Mitmenschen anders handeln und anders leben, als er es für richtig hält, und muss es sich abgewöhnen, sobald ihm etwas nicht gefällt, nach der Polizei zu rufen.» Bringen die Bürger der modernen Wohlfahrtsstaaten diese Disziplin noch auf?
Publiziert in: Schweizer Monatshefte