Ein Gespenst geht um in Europa, und es kommt aus den USA: das Gespenst der libertären Revolte gegen einen aufgeblähten Staat. Die konservative Garde der Verteidiger des Staats ist aufgeschreckt und denkt darüber nach, ob «Delegitimierung der Herrschaft» zum Straftatbestand erklärt werden könne. Aber natürlich bedarf es, damit sich ein solcher Einschnitt in die Meinungsfreiheit legitimieren lässt, eines wissenschaftlichen Überbaus. Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey, die beiden Autoren des Buches «Gekränkte Freiheit: Aspekte des libertären Autoritarismus», bewerben sich darum, ihn zu liefern. An den Verkaufszahlen gemessen, scheinen sie Aussichten zu haben, dass ihnen diese Ehre zuteilwerden wird.
Die gute Nachricht: Die Autoren begreifen, dass das neue Milieu des Protests nicht «rechts» ist, jedenfalls nicht im klassischen Sinne: autoritätshörig, führerfixiert und konformistisch. Im Gegenteil: Kennzeichen dieses Milieus sind laut den Autoren: Ablehnung von Autoritäten (Experten, Journalisten, Politikern, Wissenschaftlern), Insistieren auf dem Recht, über das eigene Leben selbst zu entscheiden, sowie der Mut, sich gegen die herrschende Meinung (das heisst die Meinung der Herrschenden) zu stellen. Auch der Aspekt des Nationalen sei, so geben die Autoren offen zu, nur recht schwach ausgeprägt; höchstens gibt es einen gewissen regionalisierenden Impuls gegen zentralistische Bevormundung. Die empirische Grundlage des Buches ist eine Reihe von qualitativen (nicht standardisierten) Interviews; die Auswahl der Interviewten wird nicht offengelegt, sondern scheint mehr oder weniger willkürlich erfolgt zu sein. Als Werte dieses Protestmilieus beschreiben die Autoren die Ideale des alternativen, linken und grünen Milieus; diese Ideale, wie Gesellschafts- und Wissenschaftskritik, Ablehnung bürokratischer Entscheidungsstrukturen, Betonung von Dezentralisation und Partizipation der Bürger, seien im Denken der 1960er bis weit in die 1990er Jahre hinein tief verwurzelt gewesen. Die Autoren fassen zusammen, die meisten der von ihnen «untersuchten Personen stammen aus Milieus, für die ein Streben nach Autonomie und Selbstverwirklichung gegenüber gesellschaftlicher Bevormundung, Einschränkung und Entfremdung massgeblich ist».
Das Buch «Gekränkte Freiheit» ist mithin Ausdruck einer Spaltung der 1968er-Generation und ihrer Nachfolger wie die Autonomie-, Bürger-, Öko-, Friedens- und Spontibewegungen — eine Spaltung, die in Deutschland spätestens mit der Machtbeteiligung der Grünen 1998 real vollzogen war, bislang aber noch kaum Reflektion erhielt. Diejenigen, die an den alten Idealen des alternativen Milieus festhielten, gingen tendenziell in die innere Emigration und wählten vielfach zähneknirschend weiter die Grünen. In drei Stufen wurden sie aus dem Mainstream hinausgedrängt und gingen zu neuen Formen des Protests über: die Flüchtlingskriese 2015 mit dem Verrat an der Partizipation der Bürger, an deren Stelle bürokratische Planung trat; die Corona-Krise 2020 mit dem Verrat an einer kritischen Haltung zu Pharmaindustrie und Wissenschaft; sowie der Ukraine-Krieg 2022 mit dem Verrat an der Parole «kein Waffenexport in Kriegsgebiete». In «Gekränkte Freiheit» kommen alle drei Stufen vor, wobei jedoch die Auseinandersetzung mit der Corona-Krise den weitaus grössten Raum einnimmt.
Aber das Buch «Gekränkte Freiheit» ist nicht nur Ausdruck der Spaltung des alternativen Milieus, sondern es bezieht auch Stellung innerhalb dieser Spaltung. Die Autoren nehmen Partei für die neue grüne Agenda, die für ihre Durchsetzung Wissenschaftshörigkeit und zentralstaatliche Zwangsmassnahmen vorsieht. Den alten, jetzt in Ungnade gefallenen Genossen das Linkssein kurzerhand abzusprechen und sie als neue Rechte zu deklarieren, wie es vielfach geschieht, ist den Autoren zufolge allerdings kein analytisch haltbarer Weg. Ihr Unterfangen, das neue Protestmilieu als diskursunwürdig und -unfähig abzuqualifizieren, um der von ihm ausgehenden Delegitimierung der Herrschaft entgegenzutreten, stellen sie auf zwei andere Sockel.
Psychologisierende Stigmatisierung
Den ersten Sockel bildet die Aussage, der libertäre (freiheitliche) Impuls des neuen Protestmilieus sei in Wirklichkeit autoritär. «An die Stelle der übermächtigen externen Instanz», die im klassischen (rechten) Autoritarismus adressiert wird, trete bei den libertär Autoritären «das Selbst als autonomes Subjekt»: «Im Typus des libertären Autoritarismus identifizieren sich die Menschen nicht mit einer externen Instanz, sondern mit dem eigenen Ich.» Und: «Libertäre Autoritäre trotzen rebellisch jeder externen Autorität.» Dies ist eine psychologisierende Stigmatisierung, die die betreffenden Menschen zu Objekten macht und ihnen abspricht, inhaltlich Sinnvolles aussagen zu können. Insofern gehen die Autoren hier in klassisch autoritärer Weise vor.
Dabei enthält die Stigmatisierung, noch bevor man versuchen kann, sie auf reale Personen anzuwenden, eine logische Problematik. Diese wird deutlich, sobald man fragt, welche Aussage aus der zitierten Stigmatisierung hervorgeht, wenn man sie umkehrt. Eine solche umgekehrte Stigmatisierung würde auf Menschen zutreffen, die sich mit einer externen Instanz identifizieren (und nicht mit dem eigenen Ich) sowie der externen Autorität nicht trotzen (sich externen Autoritäten willig unterwerfen). Klarerweise kennzeichnet dies den autoritären Charakter, also jenen, der sich stets dazu bereit zeigt, der Herrschaft zu willfahren, ja sie zu idealisieren. Wenn die Autoren also die libertären Autoritären zu den Feinden der Zivilgesellschaft erklären, müssen sie wohl einen solchen Charakter bevorzugen, der dem Ideal des klassischen Autoritarismus entspricht.
Als sekundäre Kennzeichen des libertär-autoritären Charakters nennen die Autoren die Leugnung von gegenseitigen sozialen Abhängigkeiten; die libertär-autoritären Personen würden demgegenüber behaupten, der Mensch sei völlig autonom und schrankenlos frei, frei auch von Verpflichtungen wie Anstand oder sonstigen Rücksichtnahmen auf Mensch oder Natur. Entsprechend würden libertär-autoritäre Personen Fürsorge für Schwächere und Solidarität nicht als Werte akzeptieren.
Abgesehen davon, dass dies eine einerseits absurde, andererseits ehrenrührige Unterstellung ist, zeigt sich hier ein fundamentales intellektuelles Unvermögen der Autoren; sie wissen nämlich schlicht nicht zu unterscheiden zwischen einer freiwilligen Geselligkeit, zu der Anstand, Fürsorge, Rücksichtnahme und Solidarität gehören, und staatlichen Zwangsmassnahmen, die stets in Unanständigkeit, Instrumentalisierung statt Fürsorge, rücksichtlose Anwendung der Machtmittel und Entsolidarisierung münden.
Negierung des Staatsausbaus
Den zweiten Sockel, um die von den Libertären formulierte Delegitimierung von Herrschaft zu entkräften, bildet die Aussage der Autoren, der aufgeblähte Staat, gegen den sich der libertäre Impuls richtet, sei inexistent: Er sei vielmehr nur ein verschwörungstheoretisches Gehirngespinst. Die Autoren sprechen von «einer neoliberalen Ausweitung des Privaten zulasten einer öffentliche Güter wie wirtschaftliche und soziale Sicherheit bereitstellenden Demokratie», ja (per Zitat) von «der Einschränkung der Reichweite der Demokratie im Namen der Freiheit»; damit wollen sie keineswegs die Forderung der Libertären kennzeichnen (womit sie durchaus richtiglägen), sondern die Realität dessen beschreiben, was politische, soziale und wirtschaftliche Realität der (westlichen?) Welt sei. Empirisch ist das offensichtlich falsch. Parameter wie Staatsausgaben, Staatsquote oder Verrechtlichung von Lebensbereichen deuten in Richtung Ausweitung der Staatsgewalt. In den Ländern, in denen eine formale bürgerliche Demokratie herrscht, wird damit die Reichweite der Demokratie, also die Reichweite der parlamentarischen Herrschaft über soziale Vorgänge, nicht eingeschränkt, sondern nahezu entgrenzt. Privatheit gibt es praktisch nicht mehr.
Die autoritären Libertären würden sich, beklagen die Autoren mehrfach, aggressiv gegen jene wenden, die ein anderes Freiheitsverständnis als sie selbst haben und von denen sie meinen, in ihrer Freiheit eingeschränkt zu sein; sie würden versuchen, die Andersdenkenden auszuschliessen. Da sollten die Autoren sich doch mal an die eigene Nase fassen und darlegen, inwiefern ihr eigenes Buch nicht genau dieser Struktur folgt, nämlich Andersdenkenden zuerst die Diskursfähigkeit abzusprechen und sie dann für diskursunwürdig zu erklären. An keiner Stelle präsentieren sie ein Beispiel, in dem «autoritäre» Libertäre Andersdenkende in ihrer Freiheit einschränken oder die Staatsgewalt auffordern, dies zu tun; sie fordern lediglich, dass man sie in Ruhe lasse. Somit sind sie wahre Libertäre, von autoritärem Charakter keine Spur. Wenn sie sich bisweilen verbal sehr deutlich gegen die Verfügung über ihr Leben wehren, die sich Politiker oder ihre Fürsprecher anmassen, ist das nur zu verständlich und zeugt nicht von autoritärem Charakter.
Libertäre kommen im Buch keine vor
Der Libertarismus ist eine Denkrichtung mit vielerlei Ansätzen und Denkern, aber es kommt überhaupt nur einer dieser Denker in dem Buch vor. Dies entspricht der Strategie der Autoren, die Positionen innerhalb des Protestmilieus als diskursunfähig und -unwürdig abzustempeln. Eine inhaltliche Auseinandersetzung findet nicht statt; an die Stelle der inhaltlichen Auseinandersetzung tritt eine psychologisierende Analyse des Milieus.
Der einzige explizit libertäre Denker, der in dem Buch «Gekränkte Freiheit» (negativ) genannt wird, ist Robert Nozick (1938—2002). Dieser spielt freilich, soweit ich sehen kann, keine grosse Rolle mehr in diesem Milieu, in Deutschland schon gar nicht, aber auch nicht mehr in den USA oder sonst wo. Dies ist keine Aussage darüber, ob seine Theorie diskussionswürdig und -fähig ist, doch erscheint es mir merkwürdig, dass er herangezogen wird, wenn es darum geht, den Geist dieses Milieus zu beschreiben. Vor allem ist Nozick jemand, der zwar einerseits den libertären Grundsatz des Freiheitsrechts der Menschen auf eine selbstgeschaffene und selbstbestimmte Sozialität hochhält, andererseits richtete sich sein einziges explizit libertäres Buch «Anarchie, Staat und Utopie» (1974) gegen radikale libertäre Ansätze, die davon ausgehen, dass die menschliche Gesellschaft ganz ohne Staatsgewalt auskomme. Diese radikalen Ansätze wollte Nozick widerlegen und lieferte dazu eine Legitimation staatlicher Herrschaft. Insofern ist er geradezu ein untypisches Beispiel für libertäres Denken, markiert aber vermutlich die äusserste Position, die Amlinger und Nachtwey überhaupt in der Lage sind zu rezipieren. Da also Libertäre in ihrem Buch nicht vorkommen, könnte man als Libertärer das Buch beruhigt zusammenklappten und seufzen: «Wie gut, ich bin nicht gemeint.» Leider ist es so einfach nicht.
Das Adjektiv «libertär» ist in Europa seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Gebrauch. Es wurde von Anarchisten, Kommunisten und Sozialisten verwendet, die sich mit ihm von autoritären (staats-) kommunistischen und (staats-) sozialistischen Richtungen sowie von Terroristen, die mitunter ebenfalls den Begriff «Anarchismus» für sich nutzten, abgrenzten. In den USA erhielt der Begriff im sozialrevolutionären Milieu Einzug durch französische Emigranten. Seit dem beginnenden 20. Jahrhundert verwandten den Begriff solche radikalen Liberalen in der Tradition Thomas Jeffersons, für die «Liberalismus» inzwischen zu sehr mit dem Akzeptieren des Zentralstaats verbunden war.
Die moderne Bewegung des Libertarianism — eingedeutscht Libertarismus — wurde von dem Ökonomen Murray Rothbard (1926—1995) Mitte der 1960er Jahre begründet. Aus der alten amerikanischen Rechten (die anders als die europäische Rechte antiautoritär und antimilitaristisch war) kommend, entschied Rothbard sich bewusst für einen eher links konnotierten Begriff: Sein Projekt bestand darin, die alte amerikanische Rechte — im politischen Establishment mittlerweile durch eine neue staatsverliebte Rechte ersetzt — mit den Teilen der Neuen Linken zu verbinden, die sich dem Trend zu Staatssozialismus und Staatskommunismus verweigerten. Der Inhalt dieses antiautoritären libertären Bündnisses war genau das, was Amlinger und Nachtwey als die Haltung des Protestmilieus beschreiben, nämlich sich der Überwältigung und Bevormundung durch staatliche und staatsnahe Strukturen zu widersetzen.
Amlinger und Nachtwey fassen ihre Ablehnung des libertären Gedankens wie folgt zusammen: «Bei Nozick begegnet uns ein atomares, gleichzeitig unbeschränktes Individuum, das auf (fast) nichts und niemand Rücksicht nimmt ausser auf sich selbst». Dabei zitieren sie als beispielhafte Aussage Nozicks: «Friedliche Menschen, die sich nur um ihre Angelegenheiten kümmern, verletzen keine Rechte anderer» (Seite 89).
Die beiden Autoren lehnen es konsequent ab, zwischen erzwungener und freiwilliger Gesellschaft zu unterscheiden, oder anders: Sie können sich eine Gesellschaft nicht anders vorstellen, als dass sie durch (Staats-) Gewalt erzwungen wird. Nozick zählt auch bekannte Sozialisten und Kommunisten unter den Menschen auf, für die er sich wünscht, dass sie frei sein mögen, ihre eigenen Gemeinschaften nach den von ihnen gewählten Regeln zu organisieren. Die einzige Voraussetzung für die Umsetzung jeglicher Idee sei es, dass die Umsetzung nur Personen betreffe, die der Idee freiwillig zustimmten. Sollte es denn so sein, dass Sozialisten, Kommunisten, Kapitalisten, Faschisten, religiöse Bekenntnisse und so weiter berechtigt sind, ihre Ideen anderen Menschen mit (Staats-) Gewalt aufzunötigen? Anders gefragt: Sind die «friedlichen Menschen», die Nozick sich wünscht, unfähig, eine Gemeinschaft zu bilden, bleiben sie «atomar»?
Ich überlege zudem, inwiefern «friedliche Menschen» dazu tendieren könnten, «rücksichtslos» zu sein. Denn Rücksichtslosigkeit ist genau der Vorwurf, den die Autoren dem «unbeschränkten Individuum» im Sinne Nozicks machen. Zumindest müssten die Autoren zugestehen, dass dieses «unbeschränkte Individuum», sofern es friedlich ist, Rücksicht nimmt auf Mitmenschen, die andere Ansichten, andere Ideen, andere Lebensgewohnheiten, andere Meinungen, andere Religionen haben, indem es sie in Ruhe ihrer Wege ziehen lässt. Der «friedliche Mensch» ist das Gegenteil des «unbeschränkten Individuums»; er ist absolut beschränkt auf das, was er mit freiwilliger Kooperation zu erreichen in der Lage ist.
Die Koppelung dieses friedlichen (libertären) Menschen mit einem autoritären Charakter, die die Autoren als ihr zentrales Anliegen vornehmen, stellt in der Tat einen rhetorischen Trick dar. Der friedliche Mensch sei, so sollen die Leser schliessen, autoritär, rücksichtslos, gesellschaftsschädlich, stifte Unfrieden und Unfreiheit. Aber was wäre dann der von den Autoren empfohlene Charakter? Könnte von einem unfriedlichen Menschen erwartet werden, dass er voller Rücksicht gegenüber den Mitmenschen ist, dass er den besten Kumpel aller Zeiten gibt und eine wundervoll harmonische oder meinetwegen auch demokratische Gemeinschaft begründet?
Natürlich bekennt sich niemand offen zu Unfrieden als dem gesellschaftlich erstrebten Zustand oder zu Gewalttätigkeit als einem erwünschten Charakter. Anstelle dessen wird das Ansinnen verklausuliert. Der «moderne Staat», gegen den die libertären Autoritären den Autoren zufolge ihren Zorn richten, sei «kein Klassenstaat bismarckscher Prägung mehr», sondern «ein Instrument zur Durchsetzung sozialer Fortschritte» (Seite 342). Ein Klassenstaat wäre demnach schlecht. Inwiefern ein Staat überhaupt ein Nichtklassenstaat sein könne, das lasse ich einmal dahingestellt; jedenfalls können die Autoren eine solche Möglichkeit nicht aus den Theorien von Karl Marx oder Theodor W. Adorno ableiten, auf die sich vor allem stützen. Aber sei’s drum — sie behaupten einfach, der «moderne Staat» (also muss die Moderne nach Bismarck begonnen haben, was auch eine bemerkenswerte historische Verortung ist) sei kein Klassenstaat (mehr). Statt die Interessen einer Klasse setze er, wenn wir den Autoren weiter folgen, nun soziale Fortschritte durch.
Soziale Fortschritte, das hört sich gut an. Wer kann gegen sozialen Fortschritt sein? Doch konfrontieren wir diese Aussage mit der von den Autoren ausgedrückten Missbilligung des Nozick’schen friedlichen Menschen. Der soziale Fortschritt, der mit Staatsgewalt durchgesetzt wird, kann sich nur gegen die friedlichen Menschen richten, die andere Ideen vertreten als jene, die gerade von der Staatsgewalt als sozialer Fortschritt definiert werden. Es handelt sich demnach um gesellschaftliche Entwicklungen, die mit Freiwilligkeit inkompatibel sind, sondern stattdessen Gewalt benötigen, um gegen Widerstand durchgesetzt zu werden. Schöne neue Welt. Volle Kraft voraus und zurück zu 1984.
Aufbegehren gegen Autoritäten
Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey beschreiben in ihrem Bestseller das Aufbegehren gegen autoritäre Experten als eines der Hauptanliegen des libertären Protests. In diesem Zusammenhang nutzen sie den Begriff des «Konsensleugners», den sie freilich nicht selber geprägt haben, sondern zitieren. Nun ist die Wortkoppelung mit «-leugner» in den letzten Jahren ein beliebtes rhetorisches Instrument geworden, um Menschen mit anderen als den herrschenden Meinungen (Meinungen der Herrschenden) als stumpfe Dummköpfe auszugrenzen. Dabei wird geflissentlich übersehen, dass der Typus des Leugners auf solche Menschen zurückgeht, die im Angesicht der peinlichen Befragung durch die Inquisition dennoch daran festhielten, die Wahrheit der einzig richtigen und auf Vernunft gebauten Kirche zu leugnen. Trotz Folter! Man stelle sich das einmal vor! Man präsentiert ihnen die reine Wahrheit, fügt ihnen, um ihrem Denken ein wenig nachzuhelfen, noch etwas körperlichen Schmerz zu, und dennoch halten sie fest an der Unwahrheit. Das kann doch nur mit dem Teufel zugehen. Aber was um Gottes willen ist ein Konsensleugner? Sicherlich glaubt nach Ansicht der Inquisitoren alle Welt (fast) ohne Ausnahme an die Wahrheit der unfehlbaren Kirche; der Leugner stört den Konsens. Wie aber kann man den Konsens leugnen?
Im Begriff des Konsensleugners geht es darum, dass der Leugner den Konsens innerhalb einer externen Gruppe von Autoritäten leugnet, das heisst den Konsens unter Experten und Wissenschaftlern. Es gibt ein Gremium dieser Autoritäten, in dem ein absoluter Konsens bezüglich bestimmter Aussagen herrscht, aber der Leugner leugnet dies. Vor allem tut er das, indem er Experten oder Wissenschaftler benennt, die der herrschenden Aussage nicht zustimmen; aber diese von ihm benannten Experten oder Wissenschaftler sind nicht Mitglied des Gremiums, dem der Anspruch auf unfehlbare Wahrheit zugesprochen wird. Von wem zugesprochen wird? Bei genauerem Hinsehen lautet die Antwort: vom Staat, dem Sachwalter der Wahrheit in der Erbfolge der Kirche.
An anderer Stelle nutzen Amlinger und Nachtwey statt Konsensleugner den Begriff «Wissenschaftsleugner:innen». (Ich möchte darauf hinweisen, dass die Autoren die Konsensleugner anders als andere Personenbezeichnungen nicht gendern. Handelt es sich ihnen zufolge nur um Männer?) Sie ziehen «unbestreitbare Erkenntnisse» in Zweifel. Aber wer definiert, was bestreitbar wäre und was nicht bestritten werden kann? Offensichtlich kann es doch bestritten werden; aber durch Personen, die vom Staat nicht als Vertreter der Wissenschaft klassifiziert werden. Die Wissenschaft hat, so besagt es der Begriff des Konsensleugners, immer recht. Jedenfalls wenn sie mit der Meinung der jeweils Herrschenden übereinstimmt. In Wirklichkeit geht es aber gar nicht um Wissenschaft. Es geht um Herrschaft und deren Unantastbarkeit. Der Konsens ist sowohl erzwungen als auch eine Fata Morgana.
Stefan Blankertz ist Sozialwissenschaftler und Schriftsteller sowie Theorie-Trainer am InKontakt Gestaltinstitut Berlin.
Der Artikel erschien in einer längeren Version zuerst auf Freiheitsfunken.info.