Seit dem 1. Mai 2011 gilt das Abkommen über die Personenfreizügigkeit nun endlich auch für die osteuropäischen EU-Mitgliedsländer wie Polen, Ungarn oder die Tschechische Republik. Im Vorfeld dieser Öffnung waren in der Schweiz bekannte Vorbehalte gegen eine liberalere Einwanderungspolitik zu vernehmen.
Auf der einen Seite sorgte man sich um mögliche Lohneinbussen der Arbeitnehmer und forderte einen gesetzlichen Mindestlohn. Richtig ist, dass eine Zunahme des Arbeitsangebots bei gleichbleibender Nachfrage in der Tendenz zu einem Absinken der Arbeitspreise führt. Dies ist jedoch eine allzu statische Betrachtung: stehen mehr Arbeitskräfte zur Verfügung, so entstehen auch neue Investitionschancen und Wachstumspotentiale. Die Folge sind steigende Löhne. Ein Mindestlohn wirkt dagegen wie ein Korsett – er erhält überkommene Strukturen aufrecht und zwingt in- und ausländische Arbeitskräfte zum unfruchtbaren Kampf um bestehende Arbeitsplätze.
Auf der anderen Seite galten die Ängste dagegen einmal mehr einem drohenden «Sozialmissbrauch» durch dreiste Zuwanderer. Dabei sorgt man sich letztlich um den Erhalt des Sozialstaats angesichts offener Grenzen – von «Sozialdumping» ist hier etwa die Rede. Letztlich tasten sich jedoch beide Argumentationslinien gegen die Personenfreizügigkeit in Europa nur schamhaft an ein dunkles Geheimnis unserer Sozialsysteme heran: ihre prinzipielle Unvereinbarkeit mit offenen Grenzen.
Die heutigen Sozialstaaten des Westens basieren auf kollektiven Zwangsumverteilungssystemen. Dieser Ansatz entstammt ursprünglich einer frühkapitalistischen Epoche, die von geschlossenen Grenzen und immobilen Arbeitskräften geprägt war. Damals kollektivierte die Politik die zuvor eigenverantwortliche Sozialvorsorge und zwang die berufstätigen Arbeitskräfte, ihre aufgrund von Alter, Krankheit oder Invalidität untätigen Mitbürger direkt zu subventionieren. Sie alle wurden so abhängig von der umverteilenden Hand staatlicher Sozialkassen. Die Schweiz durchlief diesen Prozess dank des langjährigen Widerstands ihrer Bürger zwar später als andere europäische Länder, doch auch sie konnte letztlich dem politischen Druck zugunsten eines umfassenden Versorgungsstaats — bis hin zum verstaatlichten Mutterschaftsurlaub — nicht widerstehen.
Wenn nun aber besonders produktive Arbeitskräfte einem solchen Sozialstaat entfliehen, wie dies aktuell in Deutschland spürbar geschieht, gerät das Umverteilungsmodell ebenso ins Wanken, wie wenn eine grosse Anzahl potentieller Transferempfänger, die nie entsprechende Einzahlungen geleistet haben, einem Staat zuströmen. Da die Sozialstaaten des Westens nicht auf Sparen, sondern auf Umverteilung beruhen, erzeugen sie einen starken Anreiz, Einzahlungen zu vermeiden und Auszahlungen zu maximieren. Kein Wunder, warnt etwa der deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn vor einer negativen Fiskalbilanz der neuen EU-Einwanderung.
Problematisch ist somit nicht der «Missbrauch» des Sozialstaats oder ein Unterwandern seiner Standards durch Migranten, sondern schlicht sein «Gebrauch» gemäss den Regeln der heutigen Sozialpolitik. Kollektive Umverteilung kann den Bedürfnissen international mobiler Arbeitskräfte nicht gerecht werden. Je mehr Flexibilität der Sozialstaat dabei dem Arbeitsmarkt nimmt, desto gravierender fallen die negativen Auswirkungen der Einwanderung auf die Umverteilungskassen aus: dauerhafte Arbeitslosigkeit, soziale Spaltung, Frühverrentung oder Scheininvalidität gehören zu den bekannten Symptomen — mit zunehmender Tendenz.
Aus diesem Teufelskreis gibt es nur einen Ausweg: den Ersatz der Umverteilungssysteme durch ein Modell des Vorsorgesparens auf Basis individueller Alters- oder Gesundheitskonten. Nur ein solcher Ansatz ermöglicht Arbeitskräften eine flexible und zuverlässige soziale Absicherung unabhängig von Migrationsentscheidungen. Indem die Politik sich aber diesen notwendigen Reformen verschliesst, bleibt sie der überholten Idee einer geschlossenen Gesellschaft verhaftet. Dabei hat gerade die traditionell weltoffene Schweiz hervorragende Erfahrungen mit einer liberalen Einwanderungspolitik gemacht, da Migranten in der Vergangenheit ganz entscheidend zu ihrem Wohlstand beigetragen haben — und zwar keineswegs nur als Gastarbeiter, sondern auch und in erster Linie als Unternehmer, Wissenschaftler, Publizisten und Künstler. Für den weiteren Erfolg dieses Modells bedarf es daher nicht weiterer Einschränkungen nach willkürlichen Kriterien, sondern vielmehr eines Abbaus des überholten Sozialstaats.
Dieser Artikel wurde in den LI-Perspektiven 2/2011 publiziert.