Anfang des 15. Jahrhunderts stand eine chinesische Flotte mit Schiffen, fünfmal so gross wie die der Portugiesen, die hundert Jahre später nach China kamen, vor der Ostküste Afrikas. China war Europa in allen Belangen voraus. Einige Jahrhunderte später hatte sich das Bild völlig geändert: Europa und seine Ableger hatten China wie alle übrigen Mächte wirtschaftlich und technisch weit hinter sich gelassen und beherrschten die Welt. Das war eine Folge des Systemwettbewerbs zwischen den europäischen Ländern um die Einrichtung und Nachahmung der besten Institutionen.
Reichtum und ein langes Leben
Sichere Eigentumsrechte, ein verlässliches Vertragsrecht, klare Rechtsordnung mit unabhängiger Rechtsprechung, nicht zu hohe Steuersätze, gute, aber zahlenmässig begrenzte Regulierungen begünstigten Effizienz und Innovation. Das alles führte zu wachsendem Reichtum, längerer Lebenserwartung und besserer Ausbildung. Gleichzeitig ermöglichte die wachsende Wirtschaft nicht nur grösseren Wohlstand, sondern sogar bei niedrigeren Abgabesätzen höhere Staatseinnahmen und dadurch verbesserte Positionen im aussenpolitischen und militärischen Machtkampf, der sozusagen die negative Seite der raschen Entwicklung darstellte. In China verbot der nächste Kaiser den Flottenbau, den die Bürokratie als zu kostspielig bezeichnete. Die Seefahrt wurde beendet, und wegen der dadurch begünstigten Piraterie wurden die Küstenstädte geräumt. Hätte der König von Portugal Gleiches getan, so hätten sich Spanier und Engländer gefreut. Wenn Galileis Schriften in Italien auf den Index gesetzt wurden, so veröffentlichte man sie in Holland. Die Vertreibung der Hugenotten aus Frankreich gab Schweizer Kantonen, den Niederlanden und Preussen die Gelegenheit, sie als willkommene Leistungsträger zu gewinnen.
Der Gefahr verheerender Kriege als Kehrseite der Medaille trat man in Amerika mit der Einführung des Föderalismus entgegen, dem bald auch die Schweiz folgte. Trotz einer gewissen Zentralisierung erfreuen sich beide Länder noch heute eines internen Systemwettbewerbs, der immer wieder institutionellen Erstarrungen entgegenwirkt. Es herrscht noch Wettbewerb um die Höhe von Steuersätzen. Schulden von anderen oder untergeordneten Gebietskörperschaften werden nicht übernommen, und in den USA sind auch die arbeitsrechtlichen Bestimmungen auf Staatenebene verschieden. Die sich auch aussenpolitisch und militärisch zeigende wirtschaftliche Überlegenheit des Westens veranlasste Japan in den Reformen der Meiji-Periode des 19. Jahrhunderts, dann im 20. Jahrhundert zunächst die südostasiatischen Länder und schliesslich China und Indien, den institutionellen Vorbildern des Westens erfolgreich nachzueifern. Auch die Aufgabe der kommunistischen Planwirtschaft hängt mit dem Scheitern des Versuchs, wirtschaftliche Lösungen durch Zentralisierung zu finden, zusammen. Die Führungen in China und der Sowjetunion erkannten, dass man in der Welt als Grossmacht nur eine Rolle spielen konnte, wenn man zu Reformen der Institutionen griff. Noch bevor Gorbatschew Generalsekretär wurde, betonte er auf einem kommunistischen Kongress, dass man nur als führende Macht ins 21. Jahrhundert eintreten könne, wenn Reformen durchgeführt würden. Dass diese dann in der Sowjetunion nur fehlerhaft erfolgten, steht auf einem anderen Blatt.
Während nun die asiatischen Länder sich dem weltweiten Wettbewerb öffneten, bietet die gegenwärtige europäische Politik den traurigen Anblick, dass man den innereuropäischen Systemwettbewerb, der den Kontinent gross gemacht hat, auszuschalten sucht. Obwohl man noch gar keinen Bundesstaat errichtet hat, wird die finanzielle Rettung überschuldeter Mitgliedsländer zum «solidarischen» Prinzip erhoben, ganz im Gegensatz zu den USA und der Schweiz. Es wird betont, dass man eine europäische Zentralregierung mit erheblichen wirtschaftlichen und fiskalischen Kompetenzen benötige, um Europa zu retten. Eine weitgehende Harmonisierung der Steuer-, ja der Sozialsysteme müsse angestrebt werden. Die Hochsteuerbelastung soll durch Informationsaustausch und Druck auf Länder mit günstigeren Steuersätzen gesichert werden. Durch die Schaffung des «gläsernen» Menschen wird jedoch die Freiheit und Unabhängigkeit der Bürger vom Staat weiter eingeschränkt, was sich ebenso wie die zu hohen Abgaben negativ auf Effizienz und Innovationsfreudigkeit auswirkt. Es ist kaum ein Zufall, dass gerade die zentralisierteren Länder mit grösserer Regulierungsdichte höhere Arbeitslosenzahlen aufweisen. Der staatlichen Überschuldung soll durch Schuldenbremsen ein Ende gesetzt werden, was erfahrungsgemäss nur gelingt, wenn man nicht zu weiterer finanzieller Stützung in «Notfällen» bereit ist. Stattdessen sollte man den viel wirksameren Staatsbankrott zulassen, nach dem die Märkte im eigenen Interesse eine künftige Schuldenwirtschaft kontrollieren würden. Und wer glaubt, dass man ineffiziente und durch den staatlichen Schutz von speziellen Interessen versteinerte reale Wirtschaften durch Dekrete oder finanzielle «Solidarität» retten könne, versteht schlicht nicht die Zusammenhänge.
Föderale Ordnung
Die Politiker sind dabei, nicht nur unter kurzfristigem Verfassungsbruch Europa zu gefährden, sondern auch die langfristigen Grundlagen für den wirtschaftlichen und kulturellen Erfolg zu zerstören. Dabei steht durchaus die Alternative einer wirklich föderalen Ordnung mit ungestörtem Systemwettbewerb zur Wahl, wie ihn etwa die European Constitutional Group schon vor Jahren mit einem Verfassungsentwurf vorgelegt hat. Noch ist eine Umkehr in Richtung einer Entwicklung mit stark begrenzter Zentralgewalt möglich, wenn sie auch durch die fehlerhaften Entscheidungen der letzten Jahre viel schwieriger geworden ist.
Der Autor ist em. Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Basel. Dieser Beitrag wurde in der Neuen Zürcher Zeitung publiziert. Das Liberale Institut bedankt sich für die freundliche Genehmigung zur Weiterveröffentlichung.