Die Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen vom 1. September sind ein Wegweiser. Sie haben zwei Verlierer und einen Gewinner hervorgebracht. Der offensichtliche Verlierer ist der woke Totalitarismus mit den Themen Corona, Klima, LGBT+ und so weiter. Die Frage ist lediglich, wie weit der wirtschaftliche Verfall noch fortschreiten muss, bis dieses gesellschaftliche Umerziehungsprogramm sich wieder in den akademischen Elfenbeinturm und dessen Klientel zurückzieht. Der zweite, nicht ganz so offensichtliche Verlierer ist der politische Liberalismus. Alle alten und neuen liberal-konservativen Parteien sind ausradiert worden. Der Gewinner ist der etatistische Kollektivismus mit dem nationalistischen Flügel der AfD und einem in Europa neuem politischen Phänomen, nämlich einer peronistischen Partei.
Der Mensch als freies Wesen
Philosophie hilft uns, einzuordnen, was hier geschieht. Man kann die politischen Entwicklungen in Europa seit dem 19. Jahrhundert mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) verstehen. Hegel hat sich von der Aufklärung abgewendet und den Staat verherrlicht. Daraus hervorgegangen sind der linke und der rechte Hegelianismus. Auf der linken Seite stehen gesellschaftliche Umerziehungsprogramme, die bessere Menschen schaffen wollen. Ihre Instrumente sind die Staatsgewalt, die die Umerziehung erzwingen soll, und Pseudo-Wissenschaft und Pseudo-Moral, die die Legitimation dafür liefern sollen. So ist es geschehen vom Marxismus bis zum real existierenden Sozialismus und dessen jüngster Erscheinungsform, dem woken Totalitarismus. Auf der rechten Seite streicht man die Umerziehungsprogramme, verherrlicht aber das Kollektiv, das sich unter der schützenden Hand des Staates vereint. Das Resultat reicht von Bismarcks Sozialprogrammen zum heutigen Wohlfahrtsstaat, der die Menschen von der Kita bis zum Sterbebett einer umfassenden Zwangsbetreuung unterzieht.
Christen, Liberale und Konservative stehen ausserhalb dieses Schemas. Gott hat jeden einzelnen Menschen als freies Wesen erschaffen; keine Staatsgewalt hat die Befugnis, den Individuen und den Familien die Selbstbestimmung über ihr Leben zu nehmen. Der Liberalismus säkularisiert diese Einsicht; insofern der Staat überhaupt gerechtfertigt ist, beschränkt sich seine Aufgabe auf Rechtssicherheit nach innen und Verteidigung nach aussen. Wohlfahrt bleibt der individuellen, familiären oder genossenschaftlichen Vorsorge überlassen. Konservative halten am Bewährten fest: Das ist der Staat, der Sicherheit schafft und dafür nicht mehr als 10 Prozent an Steuern und Abgaben verlangt.
Mit diesem Rüstzeug können wir mindestens dreierlei verstehen:
- An dem, was manche als «Extremismus der Mitte» in Bezug auf das Corona-, Klima- und Wokeness-Regime konstatieren, ist nichts verwunderlich. Was sich «politische Mitte» nennt, ist häufig eine Mischung aus rechtem und linkem Hegelianismus, die mal eher der einen, mal eher der anderen Seite zuneigt. Christen, Liberale und Konservative stehen nicht in der Mitte zwischen, sondern jenseits von linkem und rechtem Hegelianismus. Sie stehen dem ganzen Staatstheater der Eingriffe in die Lebensgestaltung der Menschen skeptisch gegenüber.
- Das Wesentliche ist der Machtapparat des Staates, beliebig in Wirtschaft und Gesellschaft eingreifen und den Ausnahmezustand deklarieren zu können. Diesen Machtapparat nutzen linke Ideologen, wie zuletzt mit dem Corona-, Klima- und Wokeness-Regime. Der nationalistische Flügel der AfD und das BSW schaffen zwar den Überbau dieser Ideologie weg, tasten aber den Unterbau des staatlichen Machtapparates nicht an. Insofern gehören sie beide zum rechten Hegelianismus: ein starker Staat, der lenkend in Wirtschaft und Gesellschaft eingreift und die Menschen unter dem Schutz eines von oben aufgezwungenen Kollektivs vereint, dementsprechend Skepsis gegenüber Eigeninitiative und Zusammenschlüssen, die den Staat nicht brauchen. Das BSW bringt den Peronismus nach Deutschland: starker, bevormundender Staat, aber keine linke Umerziehungsideologie.
- Die westliche Zivilisation ist ausserhalb und gegen diese Politik erfolgreich. Die spontane Ordnung, die durch die vielfältigen freiwilligen Interaktionen der Menschen entsteht, ist zentraler Planung immer überlegen. Kein Politiker hat jemals eine Erfindung hervorgebracht. Nicht Politiker, sondern Unternehmer in freien Märkten orientieren sich an den Bedürfnissen der Menschen, die diese spontan zum Ausdruck bringen. Der Weg des wissenschaftlichen, technologischen, wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritts im Rahmen der individuellen Freiheiten, des Privateigentums und der Rechtsordnung mit gleichem Recht für alle schafft Freiheit, Frieden und Wohlstand für alle Bevölkerungskreise. Dazu braucht es Rechtssicherheit nach innen und Verteidigung nach aussen, aber keine staatlichen Eingriffe in Wirtschaft und Gesellschaft.
Philosophie hilft, die richtigen Fragen zu stellen. Die Frage ist nicht, wie man staatlichen Zwang weiter ausgestalten soll, sondern ob und inwiefern dieser Zwang überhaupt berechtigt ist. Philipp Gut zum Beispiel hat so eine Frage am 19. August in Weltwoche Digital gestellt, anlässlich der Debatte um eine Mehrwertsteuererhöhung zur Finanzierung der 13. AHV-Rente: Was geht es den Staat überhaupt an, wenn Menschen untereinander freiwillig Vereinbarungen eingehen? Wenn einer sich in seinen Rechten verletzt fühlt, dann muss er einen Richter anrufen können. Aber der Richter tritt nur auf, wenn er gerufen wird. Er macht keine generellen Vorschriften darüber, wie die Menschen ihre freiwilligen Interaktionen zu gestalten haben.
Erik von Kuehnelt-Leddihn schlägt in seinem Hauptwerk «Freiheit oder Gleichheit» (1952) eine andere Einteilung vor als die Hegels, die in Kontinentaleuropa dominiert: Rechts ist, was rechtens ist, nämlich das Recht jedes Menschen auf ein selbstbestimmtes Leben zu respektieren. Links ist, was den Menschen unter was für Vorwänden von Wohlergehen auch immer etwas aufzwingen will.
Die richtigen Fragen stellen
Rechts in diesem Sinne ist die Alternative zum linken Totalitarismus. Diese Alternative hat politisch eine Chance, wie die Wahl von Javier Milei in Argentinien zeigt, und wie vielleicht eine zweite Präsidentschaft Trumps mit Beratern wie Elon Musk und Robert Kennedy zeigen wird. Und das ist die Tradition der Schweiz seit 1291: gegen fremde Mächte, die uns eine Lebensweise aufzwingen wollen; diese Mächte der Fremdbestimmung über das eigene Leben können durchaus auch von innen kommen. Wenn wir beharrlich die richtigen Fragen stellen, dann hat der politische Liberalismus vielleicht auch bei uns wieder eine Chance.
Michael Esfeld ist Professor für Philosophie an der Universität Lausanne und Mitglied im Stiftungsrat des Liberalen Instituts der Schweiz.
Dieser Beitrag ist in der Weltwoche vom 12. September 2024 erschienen.