Die Ethik der Eigenverantwortung besagt, man solle alles unternehmen, um anderen nicht zur Last zu fallen. Denn anderen zur Last zu fallen, wenn man dazu imstande wäre, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen, gebührt sich nicht und ist nicht tugendhaft. Wer andere für sich arbeiten lässt, obwohl er es selbst könnte, verhält sich unsozial, rücksichtslos und unmoralisch. Immanuel Kant prägte die Formel, dass man selbst immer so handeln solle, dass das eigene Handeln zum allgemeinen Gesetz werden könnte. Es ist offensichtlich, dass eine Gesellschaft nicht funktionieren kann, wenn alle auf Kosten anderer leben wollten.
Dennoch gibt es im Leben Situationen, in denen man auf die Hilfe seiner Mitmenschen angewiesen ist. Jedem von uns ist das schon einmal passiert: In unserer Kindheit etwa haben sich unsere Eltern oder Betreuungspersonen um uns gekümmert und unser Überleben gesichert. Darüber hinaus kann es durchaus zu Konstellationen kommen, in denen wir unverschuldet auf die Unterstützung anderer angewiesen sind, etwa wenn wir Opfer eine Naturkatastrophe geworden oder aufgrund von Geburtsfehlern, Krankheit oder Unfalls körperlich schwer eingeschränkt sind. Die Ethik der Selbstverantwortung fordert von Menschen in solchen Notlagen natürlich nicht, dass sie für sich selbst sorgen sollen, wenn sie dazu gar nicht in der Lage sind. Vielmehr soll in diesen Fällen die Solidarität der Mitmenschen zum Tragen kommen.
Wo liegt das Problem?
Heute gehen viele davon aus, dass die Eigenverantwortung und die Solidarität outgesourct werden könnten. Sie werden an ein Gebilde übertragen, das euphemistisch «Sozialstaat» genannt wird. Das mag zunächst nach einem hervorragenden Deal klingen: Wir müssen uns nicht mehr selbst um unser Auskommen kümmern, sondern der Staat übernimmt das, wenn wir keine Lust mehr darauf haben. Wir können uns jetzt alle zurücklehnen. Anderen zu helfen brauchen wir jetzt auch nicht mehr. Wer Hilfe benötigt, kann sich ja direkt an den Staat wenden. Klingt toll, nicht wahr? Doch dabei handelt es sich um einen verhängnisvollen Irrtum. Denn der «Sozialstaat» schafft eine Reihe von Problemen:
- Negative Anreize zur Wohlstandsbildung Ein erstes Problem liegt darin, dass der Staat nur Ressourcen verteilen kann, die er vorher jemandem weggenommen hat. Diese Ressourcen treibt er unter Androhung oder Anwendung von Gewalt ein. Ein solcher Akt der Gewaltandrohung oder -ausübung bleibt nicht ohne Folgen. Er stellt einen negativen Anreiz dar. Durch die steigende Steuer- und Abgabenlast wird die Motivation der Produktiven gemindert, der Allgemeinheit nützliche Güter und Dienstleistungen anzubieten. Denn je mehr man leistet, desto stärker wird man vom Sozialstaat geschröpft und bestraft. Wer das Mass der Bestrafung eindämmen will, leistet weniger. In der Folge werden weniger Produkte hergestellt und Dienstleistungen erbracht, als es ohne das Wirken eines zwangsweise eingreifenden Sozialstaats der Fall gewesen wäre. Der gesamtgesellschaftliche Wohlstand wird somit durch den Umverteilungsstaat geschmälert. Es stehen folglich weniger Mittel für die Bedürftigenhilfe zur Verfügung als in einer Gesellschaft ohne Zwangsumverteilung.
- Bedürftigenhilfe schafft mehr Bedürftige: Auf der anderen Seite kreiert der Wohlfahrtsstaat durch die Ausschüttung von Geldern an wie auch immer definierte «Bedürftige» tendenziell mehr von diesen so definierten «Bedürftigen». Die Erfahrung aus Grossbritannien etwa hat gezeigt, wie die Einführung einer staatlichen Privilegierung alleinerziehender Mütter in den 1980er Jahren und verstärkt ab den 1990er Jahren mehr alleinerziehende Mütter hervorgebracht hat. Heute lebt in Grossbritannien jedes vierte Kind in einem Alleinerzieherhaushalt. Jedem Möchtegern-Sozialingenieur sollte klar sein: Wo es Gelder ohne Gegenleistung abzuholen gibt, werden sie auch abgeholt. Viele zeigen sich hier von ihrer kreativsten Seite, um sich gegenüber entsprechenden Ämtern so zu präsentieren, damit die Auszahlungskriterien erfüllt erscheinen. Einige passen sogar ihren Lebensstil so an, dass sie in den Genuss maximaler staatlicher Unterstützung gelangen.
- Finanzielle Schieflage: Eine wachsende Zahl von Menschen wird aufgrund der immer grosszügigeren Leistungen vom Sozialstaat abhängig, so wie Drogenabhängige von der Spritze. Dies macht immer weitere Zwangsabgaben und Steuern nötig. Diese intensivierte Ausbeutung der Produktiven wiederum führt zu sinkendem Wohlstand und mehr Bedürftigen. Es ist ein Teufelskreis, an dessen Ende der Bankrott des Wohlfahrtsstaats steht.
- Falsche Versprechen: «Sozialstaat» ist ein manipulativer Euphemismus. Beschönigend wird hier impliziert, dass er gute Ergebnisse für die Bedürftigen liefern würde und dass die von ihm umgesetzte Umverteilung auf einen «sozialen», also zwischenmenschlichen Aushandlungsprozess zurückzuführen sei. Doch beides stimmt nicht. Den Bedürftigen vermag er über einen begrenzten Zeitraum hinweg zwar durchaus die nötigen materiellen Ressourcen zur Verfügung stellen. Doch dieses Versprechen ist kein nachhaltiges, weil der Sozialstaat über kurz oder lang wegen seiner eigenen Fehlanreize zugrunde gehen muss. Auch ist er nicht das Ergebnis eines sozialen Aushandlungsprozesses: Vielmehr wird er durch staatliche Gewalt «top down» allen Bürgern aufgezwungen, ohne dass die Nettozahler nach ihrem Einverständnis gefragt worden wären. Diese werden plump ausgebeutet, was den Bestohlenen gegenüber alles andere als sozial, sondern – im Gegenteil – ziemlich asozial ist.
- Niedergang des Zwischenmenschlichen: Vor dem Aufkommen des Sozialstaats wandten sich Hilfsbedürftige an die Familie, Bekannte, religiöse Institutionen und Hilfswerke. Sie wussten genau, woher die materielle und seelische Unterstützung kam und wem sie die Hilfe zu verdanken hatten. Auf der Geberseite entstand das wunderbare und ehrenvolle Gefühl der Barmherzigkeit und der Nächstenliebe. Nicht selten fühlten sich die Unterstützer auch verantwortlich für das Schicksal der Hilfsbedürftigen: Diese halfen aktiv mit, damit die Bedürftigen in absehbarer Zeit wieder auf eigenen Füssen stehen konnten. Der Sozialstaat bringt Bedürftige nun aber dazu, sich an eine Massenabfertigungsbürokratie zu wenden. Anstelle des zwischenmenschlichen Kontakts mit den Unterstützern, werden sie gezwungen, massenhaft Formulare auszufüllen und sich gegenüber Funktionären zu rechtfertigen, die auch nur auf Kosten der Steuerzahler leben. Die Bedürftigen wie auch die Sozialstaatsverwalter wissen nicht, vom wem genau das Geld eigentlich stammt, das sie da erhalten. Dadurch kann sich auch kein Gefühl der Dankbarkeit einstellen. Die zwischenmenschliche Wärme, das Soziale und die freiwillige Solidarität gehen verloren und werden durch anonyme Umverteilungsströme und unpersönliche Kälte abgelöst.
- Der Sozialstaat erzeugt Hass auf Minderheiten: Der Sozialstaat macht immer höhere Steuersätze nötig, die zunehmend auch den unteren Mittelstand belasten. Hohe Steuern und Abgaben schmälern den Wohlstand. Der Sozialstaat gerät daher gleich doppelt unter Druck. Einerseits steigen die Ansprüche an den Sozialstaat. Andererseits schrumpfen die Mittel. Irgendwann muss die Anzahl der Empfänger limitiert werden. Und in dieser Notwendigkeit lauert der Keim für Rivalitäten und Hass. Plötzlich fühlt sich die Mehrheit dazu legitimiert, Minderheiten herabzusetzen und deren Rechte und Ansprüche in Frage zu stellen. Allerlei Minderheiten geraten unter Beschuss: Reiche, Kapitalisten, Immobilienbesitzer, Unternehmer, Ausländer, Fremde, Andersdenkende, Systemkritiker usw. An Politikern, die solche Minderheiten angreifen, wird es nie fehlen.
Liberale Vision
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Nicht nur sorgt er sich um seine Familie, Verwandte und Freunde. Seine Fähigkeit zur Empathie lässt ihn auch mit dem Schicksal Wildfremder mitfühlen. In seinem Buch Theorie der ethischen Gefühle schreibt Adam Smith (1723-1790):
«Man mag den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen und die ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis machen, obgleich er keinen anderen Vorteil daraus zieht, als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein. Ein Prinzip dieser Art ist das Erbarmen oder Mitleid, das Gefühl, das wir für das Elend anderer empfinden, sobald wir dieses entweder selbst sehen, oder sobald es uns so lebhaft geschildert wird, dass wir es nachfühlen können.»
Es mag vereinzelt Ausnahmen geben. Aber im Grossen und Ganzen scheint die Angst unbegründet zu sein, dass sich die Menschen untereinander ohne staatliche Androhung oder Anwendung von Gewalt nicht helfen würden. Muss der Sozialstaat uns wirklich sinnbildlich eine Pistole an die Brust setzen und uns forsch befehlen, unseren Mitmenschen zu helfen? Würden wir sonst jeden, der zum Beispiel in einer Naturkatastrophe sein Hab und Gut verliert und unsere vorübergehende Hilfe benötigt, einfach auf der Strasse «verrecken» lassen? Haben wir nur ein Herz für körperlich und geistig Behinderte, weil der Staat uns dazu zwingt? Die vorsozialstaatliche Erfahrung besagt jedenfalls etwas anderes.
Was spricht dafür, dass in einer freien Gesellschaft für die Bedürftigen gesorgt würde? Sehr vieles:
- Die allgemeine Sorge um das Schicksal der Bedürftigen: Äussert man die Idee, die staatliche Zwangsumverteilung zu überwinden, kommt als erstes fast immer der folgende moralisch aufgeladene Einwand: «Und wer hilft dann den Bedürftigen?». So als hätten Anhänger einer liberalen Bedürftigenhilfe überhaupt kein Herz. Dieser Einwand beweist aber gerade, dass sich die allermeisten um die Bedürftigen sorgen. Heute mag es einige geben, die persönliche Hilfe ablehnen, weil sie das Gefühl haben, schon genug via Zwangsabgaben zur Bedürftigenhilfe beigetragen zu haben. Doch wenn diese Zwangsabgaben wegfallen, bleibt den Menschen auch mehr Geld, das sie für die Unterstützung der Bedürftigen verwenden können.
- Weniger Bedürftigkeit: In einer freien Gesellschaft gibt es keine staatlich erzwungene Umverteilung und folglich auch keine negativen Anreize auf die Wohlstandsbildung. Der Lebensstandard steigt an – überproportional für die ärmsten der Armen. Das zeigt z.B. der Index wirtschaftlicher Freiheit, der vom Liberalen Institut mitherausgegeben wird. Der Index aus dem Jahr 2023 zeigt, dass die ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung in den 25 Prozent freisten Ländern der Welt ein Pro-Kopf-Einkommen von 14’204 US-Dollar erwirtschafteten, während die ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung in den unfreisten Ländern lediglich 1’736 US-Dollar verdienten. Die ärmsten zehn Prozent in den freisten Ländern erwirtschafteten zudem mehr als das Doppelte als die Durchschnittsbevölkerung in den unfreisten Ländern. Ausserdem waren im unfreisten Viertel 31,7 Prozent der Bevölkerung von extremer Armut betroffen (2.15 Dollar pro Tag), während es im freisten Viertel aller Länder lediglich 1,0 Prozent sind. Damit wird klar: Wenn es den Menschen aufgrund freiheitlicher Rahmenbedingungen immer besser geht, gibt es immer weniger Bedürftige.
- Mehr Ressourcen für die Bedürftigenhilfe: Auf der anderen Seite gibt es durch den erhöhten Wohlstand auch mehr Möglichkeiten der Bedürftigenhilfe. Denn wenn eine Gesellschaft wohlhabender wird, stehen ihr immer mehr Ressourcen über das Existenzminimum hinaus zur Verfügung. Diese können nebst der Befriedigung zusätzlicher Bedürfnisse auch zur Unterstützung Hilfsbedürftiger verwendet werden. Gerade in wirtschaftlich relativ freien Ländern wie der Schweiz (Platz 3 gemäss Index wirtschaftlicher Freiheit) befinden sich private Hilfswerke je länger desto weniger in Geldnot. Seit vielen Jahren werden hier neue Spendenrekorde verzeichnet: Während die Schweizer 2003 noch 1’071 Millionen Franken gespendet hatten, waren es 2021 bereits 2’051 Millionen Franken.
Weg zum Ziel
Die ideale Lösung wäre es, den Sozialstaat sukzessive zu reduzieren. Das kann durchaus in verschiedenen Zwischenschritten geschehen, um keine schockartigen Veränderungen mit ungewollten Konsequenzen zu verursachen. Die Betroffenen sollen sich an die neue Situation gewöhnen können. Es soll den privaten Hilfsstrukturen auch Zeit und Raum eingeräumt werden, um sich wieder zu etablieren und zu organisieren, nachdem sie zuvor vom Sozialstaat verdrängt worden sind. Über kurz oder lang gilt es das sozialistische «Recht auf Hilfe in Notlagen», das aktuell in Art. 12 der Schweizerischen Bundesverfassung verankert ist, zugunsten eines liberaleren Artikels zu ersetzen.
Da eine gänzliche Abschaffung unter den heutigen Bedingungen eher als unrealistisch eingestuft werden muss, ist es ratsam, kleinere Etappen in Angriff zu nehmen. Diese haben dann zwar nur den Effekt, die Lebensdauer des Sozialstaats etwas zu verlängern und den Bankrott hinauszuzögern. Doch angesichts der desaströsen Folgen eines solchen Bankrotts ist das ja auch schon mal etwas.
Mögliche «second best» Reformen sind:
- Senkung der Abgabenlast: Die staatliche Umverteilung hat heute Ausmasse angenommen, bei denen nicht mehr nur von einer «Bedürftigenhilfe» gesprochen werden kann, sondern eher von luxuriösen Sozialprogrammen. Indem die Zwangsabgabenlast für die Bürger gesenkt wird, zwingt man die Umverteilungsbürokratie, die richtigen Prioritäten zu setzen. So muss man sich wieder auf das Wesentliche fokussieren und unnötige Saläre in der ganzen Umverteilungsmaschinerie kürzen.
- Anspruchsgruppen enger eingrenzen: Anstatt mit der Giesskanne Gelder an alle möglichen Gruppen zu verteilen, die bei genauem Hinsehen nicht als «bedürftig» eingestuft werden können, gilt es die Anspruchskriterien einzuengen. Die Hilfe soll für jene reserviert sein, die tatsächlich Unterstützung benötigen. Es schadet gerade den echten Bedürftigen, wenn die zur Verfügung stehenden Gelder leichtsinnig auch an Interessengruppen verteilt werden, die zwar über keine Bedürftigkeit, dafür aber gute Kontakte zur Umverteilungsbürokratie verfügen (wie etwa die die Banken- und die Pharmalobby).
- Armut definieren: Es lohnt sich, den Begriff «Armut» in absoluten (inflationsbereinigten) Einkommens- und Vermögenszahlen zu definieren. Denn wenn der Armutsbegriff nur ein relativer ist, wird es auch in einer hypothetischen Gesellschaft, die nur aus Multimillionären besteht, immer noch «Armut» geben, weil relativ zu anderen gesehen immer jemand weniger besitzt als andere.
- Dezentralisierung der Bedürftigenhilfe: Hilfe für Bedürftige sollte nach dem Subsidiaritätsprinzip auf der tiefstmöglichen Stufe angesiedelt sein, also möglichst nah bei den Betroffenen. Anstatt Umverteilungskassen auf nationaler oder sogar supranationaler Ebene anzusiedeln, wäre der Kanton, die Gemeinde oder idealerweise die private Ebene zu bevorzugen. Vor Ort wissen die Akteure meistens besser über die wahren Verhältnisse Bescheid und können dadurch bessere Entscheide fällen.
- Abschaffung der staatlichen Entwicklungshilfe: Wenn man bei der Bedürftigenhilfe die internationale Umverteilung miteinbezieht, so wären auch hier Schritte zu unternehmen. Allen voran die Abschaffung der staatlichen Entwicklungshilfe. Staatliche Direktzahlungen an Regierungen sind genauso schädlich wie die kostenlose Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen. Damit werden einerseits Steuerzahler in Industrieländern geschröpft, was zu grösserer Armut führt. Andererseits werden unternehmerische Initiativen in Entwicklungsländern entmutigt, weil lokale Unternehmer nicht mit den kostenlos hereinströmenden Angeboten konkurrieren können. Die Bedürftigkeit wird durch die Entwicklungshilfe nachhaltig zementiert. Die beste Entwicklungshilfe wäre daher die Abschaffung der staatlichen Entwicklungshilfe. Dies würde auch die Schweizer Steuerzahler enorm entlasten, zumal die Bundesausgaben für Entwicklungshilfe von 1’668 Mio. Franken im Jahr 2007 auf 3’025 Mio. Franken im Jahr 2022 gestiegen sind – ein Plus von über 81 Prozent in 15 Jahren.
Olivier Kessler
Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen Auszug aus dem Buch Freiheitsdiät: Rezepte für eine fitte Schweiz (2024) von Olivier Kessler.