Früher, als es die Soziologie noch nicht zu Rang und Ansehen gebracht hatte, gaben uns Sprichwörter Orientierung beim Blick auf das Wie und Warum gesellschaftlicher Abläufe. Solche Erkenntnisse waren aus langer Erfahrung gewonnen. Wer zuerst kam, mahlte zuerst. Wer den Pfennig nicht ehrte, war des Talers nicht wert. Wie man sich bettete, so lag man. Ehrlich währte am längsten.
Einige dieser Weisheiten sind Gegenstand von Büchern, von wissenschaftlichen Publikationen und ganzen Forschungsprogrammen geworden, andere haben sich zu Glaubenssätzen verfestigt. Zur letzteren Gruppe gehört der englische Ausdruck «from shirtsleeves to shirtsleeves in three generations». Der Bezug auf Hemdsärmel mag im deutschen Sprachraum nicht geläufig sein, der Sinn des Wortes fliegt uns auch so entgegen. Eine erste Generation gründet, die nächste hält, die dritte verliert das ererbte Vermögen — eine Abfolge, die uns etwa bei den Buddenbrooks von Thomas Mann begegnet und die über manch andere Version zu einem Gemeinplatz geworden ist. Die vierte Generation beginnt wieder unten, es schliesst sich der Kreis.
Soziale Mobilität als Trost für Idealisten
Wer bekommt was? Verteilungsfragen nähren grosse Kontroversen, und häufig geht es in diesem Kontext um soziale Mobilität. Wo sie spielt, wird davon ausgegangen, dass die Gesellschaft funktioniert, wie man es erwartet. Wo sie nicht spielt, wird dieser Umstand gerne beklagt.
Die Aussicht auf die Segnungen sozialer Mobilität bleibt ein Trost für jene Idealisten, die sozioökonomische Ungleichheit an sich als etwas moralisch Verwerfliches betrachten. Soziale Mobilität gibt aber auch jenen Utilitaristen Grund zur Hoffnung, die in bestehenden Unterschieden die Ursache für suboptimale Ergebnisse im aggregierten materiellen Wohlstand erkennen — wenn nicht die Wurzel für weitere Übel, von verminderter Lebenserwartung bis zu vermehrtem Schulversagen.
Verringert Kapitalismus Ungleichheit durch die Förderung sozialer Mobilität?
Aber eben, es bleibt die Hoffnung auf soziale Mobilität. Wo sie spielt, ebnet sie Ungleichheiten auf Dauer ein. Auch dem Kapitalismus wohnt ein Mechanismus inne, der Ungleichheiten reduziert. Milton Friedman propagierte diesen Punkt, und der Erfahrungswert vom Kreislauf der Hemdsärmel stützte seine Theorie.
So attraktiv Friedmans Theorie damals auch war, in den vergangenen dreissig Jahren ist sie vermehrt unter Beschuss geraten. Es liess sich nicht leugnen, dass sich die Einkommensverteilung in weiten Teilen der westlichen Welt dauerhaft in Richtung der obersten Segmente verschob.
Bemerkenswert an dieser Verschiebung war aber auch, dass sie in den Vereinigten Staaten und anderen Teilen des englischen Sprachraums deutlicher ausfiel — ausgerechnet in Ländern also, die einen weniger unliberalen Kurs steuerten und stärker auf die Leistung von Märkten vertrauten. Friedmans Theorie war falsifiziert. Fragte sich: Aus welchem Grund?
Einbahnstrasse nach oben
Soziale Mobilität, so schien es, hatte versagt. Von hochgekrempelten Hemdsärmeln ging es zwar weiter zu Anzügen aus der Savile Row; von dort aber führt kein Weg mehr nach unten. Die Einkommen wanderten nach oben — und sie blieben dort.
Auf der Suche nach Erklärungen sind die einen schneller fündig geworden als die anderen. Seiner gewohnten Rolle treu bleibend, versucht Joseph Stiglitz uns davon zu überzeugen, dass es in den Vereinigten Staaten recht eigentlich eine Verschwörung gibt: Die Reichsten nutzen Geld und Einfluss, um in ihrem Sinne zu manipulieren, was sich mit Geld und Einfluss manipulieren lässt. Was Wunder, wenn Privilegien sich verfestigen; was Wunder, wenn auch die Ungleichheit wächst. Anzumerken bleibt, dass der Ansatz von Stiglitz so wenig Beachtung verdient wie jede andere Verschwörungstheorie. Die unterliegende Frage aber bleibt im Raum stehen: Warum hat die soziale Mobilität in den letzten Jahren abgenommen?
Unter Rückgriff auf den Kreislauf der Hemdsärmel ist vor allem im populärwissenschaftlichen Diskurs argumentiert worden, auch reiche Leute seien gut beraten, mehr oder weniger ausgeprägte staatliche Umverteilung von Einkommen zu befürworten. So sei gewährleistet, dass ihre Nachkommen nicht verarmten, dass sie dem üblichen Lauf der Dinge ebenso entgingen wie den Launen des Schicksals.
Das ist grober Unfug. Wenn reiche Leute geschickt oder smart genug gewesen sind, um reich zu werden, dann sind sie in der Regel auch geschickt oder smart genug, um die Zukunft der eigenen Nachkommen materiell abzusichern; Mittel und Wege reichen vom einfachen Sparschwein bis zum komplexen Treuhandfonds. Auf der Auftriebsseite sozialer Mobilität wohlhabend geworden, verstehen es die Vermögenden, den Abtrieb zu meiden. Sie kommen ohne Daunen und Federn des Wohlfahrtsstaats aus. Gleiches gilt aber nicht für jene anderen, die weniger vermögend, weniger geschickt oder weniger smart im Leben stehen. Sie alle werden eher geneigt sein, Schutz vor den Launen des Schicksals zu suchen.
Gesellschaftsvertrag soll Gleichheit schaffen
Dieses Verlangen nach Sicherheit ist natürlich nicht neu. Die politische Philosophie hat es vielfach aufgenommen und namentlich über egalitäre Theorien einer Lösung zugeführt. Zu den einflussreichsten Denkern des Egalitarismus im 20. Jahrhundert gehören William Vickrey, John Charles Harsanyi, James Buchanan und John Rawls. Ihre Theorien sind nicht identisch, basieren aber auf den gleichen Grundannahmen.
Alle vier sind Vertreter der Vertragstheorie. Die jeweils empfohlenen gesellschaftlichen Arrangements sind also weder von einer Mehrheit noch von einer Minderheit oder einem Diktator auferlegt; vielmehr stehen sie als einstimmig akzeptiertes Ergebnis einer hypothetischen Einigung. Diese Einigung, so wird angenommen, liegt im besten Interesse aller Beteiligten.
Solange dieses Interesse als erwarteter Nutzen aus Einkommen umschrieben wird, erscheint Gleichheit im Kontext der erwähnten Theorien nicht als moralischer Imperativ. Die Ausnahme macht John Rawls, der Fairness in gewisser Weise voraussetzt und seine Überlegungen neben die weitere Annahme stellt, dass die am Gesellschaftsvertrag Beteiligten zwar wenig Wert auf Reichtum legen, mit Blick auf primäre, lebensnotwendige Güter aber nicht unter ein bestimmtes Niveau fallen wollen.
Rawls‘ Theorie kommt mit Gurt und Hosenträger daher. Wer seinen Ansatz mag, schenkt den Hosenträgern — dem Aspekt der Fairness — in der Regel deutlich mehr Beachtung als dem Gürtel. Dabei trägt der Gürtel, nämlich das Element einer starken Risikoaversion, die Hauptlast in der Herbeiführung der gewünschten Übereinstimmung. Das Element der Risikoaversion findet sich in jeder der vier erwähnten Theorien, und überall spielt es eine entscheidende Rolle.
In allen vier Ansätzen wird nach dem gleichen Muster argumentiert. Im Moment vor dem Abschluss des Gesellschaftsvertrags erwarten alle Beteiligten für die Zukunft ein gewisses, unveränderliches Einkommen, wobei die Zahl der Einkommensstufen der Zahl der Beteiligten entspricht. Letztere können die ihnen schliesslich zufallende Einkommensstufe nicht auswählen; sie müssen sie auch nicht verdienen, nicht für sie arbeiten, nicht um sie kämpfen.
Vor der Einigung deckt sich das Spektrum sämtlicher Einkommenserwartungen mit der durchschnittlichen Einkommensstufe. Der positive Nutzen für jene, denen ein überdurchschnittliches Einkommen zufällt, wird in der Folge aber deutlich geringer ausfallen als der negative Nutzen für jene, denen ein unterdurchschnittliches Einkommen zufällt. Weil alle Beteiligten diesbezüglich gleich empfinden, ist das optimale Gesamtergebnis dann erst gefunden, wenn jede Einkommensstufe ein gleiches Mass an Schutz und Annehmlichkeiten verspricht wie jede andere. Daraus erklärt sich die allgemeine Zustimmung zum (fiktiven) Gesellschaftsvertrag. Er setzt voraus, dass eine fortlaufende Anpassung der Einkommensstufen so lange gewährleistet bleibt, bis jede Stufe den gleichen Nutzen spendet.
Wächst das Einkommen (oder auch: der soziale Status) einer bestimmten Person, sollten wir nicht gleich von einem sozioökonomischen Aufstieg sprechen. Entscheidend für die positive Zuschreibung bleibt der Abgleich mit einer Bezugsgrösse, zum Beispiel das durchschnittliche Einkommen einer Klasse oder der ganzen Gesellschaft. Umgekehrt sollten wir nur dann von einem Abstieg sprechen, wenn das Einkommen der betroffenen Person stärker sinkt als das durchschnittliche Einkommen der Bezugsgruppe.
Soziale Mobilität führt nicht zu mehr Einkommensgleichheit
Die gängige Meinung geht dahin, dass soziale Mobilität der Tendenz nach zu vermehrter Gleichheit in den Einkommen führt — und dass sie darum zu begrüssen ist. Um es höflich auszudrücken: Eine solche Auffassung ist nicht richtig.
Ein grober Indikator von Ungleichheit ergibt sich aus jenem Wert, um den das durchschnittliche Einkommen das mittlere (oder Median-)Einkommen übersteigt. Wenn eine Person mehr und mehr verdient, trägt ihr materieller Aufstieg tatsächlich zu einer Verringerung von Ungleichheit bei — allerdings nur, bis das Median-Einkommen erreicht ist. Jenseits des Medians ist das Gegenteil der Fall: Das weiterhin steigende Einkommen vergrössert nunmehr Ungleichheit, weil es das durchschnittliche Einkommen nach oben zieht, die Distanz zum Median also wächst.
Das Umgekehrte gilt, wenn jemand Mobilität von der anderen Seite kennenlernt. Zunächst reduziert die Verringerung des Einkommens aus luftigen Höhen die bestehende Ungleichheit; unterhalb des Medians aber wird der fortgesetzte Fall das Ausmass von Ungleichheit wieder vergrössern.
Reichgewordene steigen nicht mehr ab
Wo Auftrieb und Abtrieb sich die Waage halten, wo der Kreislauf der Hemdsärmel sich also vollständig schliesst, bleibt die Einkommensverteilung unverändert. Wo der sozioökonomische Auftrieb über längere Zeit stärker bleibt als der Abtrieb, kommt es zu einer erhöhten Konzentration von Einkommen in den obersten Segmenten. Genau dies scheint gegenwärtig zu geschehen: Die Reichen werden in höherem Mass reicher als alle anderen. Der soziale Abtrieb dagegen scheint an Effektivität eingebüsst zu haben.
Mittlerweile hat das egalitäre Ethos westliche Gesellschaften vielleicht sogar stärker durchdrungen als das utilitaristische Ethos in den hundert Jahren seit Jeremy Bentham und John Stuart Mill. Zu den Implikationen dieses modernen Ethos gehört nun aber die Ächtung des Risikos, in der Folge auch der forcierte Versuch, Risiken zu verringern oder ganz auszuschalten — sei es über Institutionen, sei es über fiskalische und regulatorische Politiken aller Art. So ist «Sicherheit» zu einem nicht mehr hinterfragten Wert geworden, der fast schon ohne Rücksicht auf Kosten herbeizuführen ist — zu einem Mantra, das noch jede Direktive legitimiert.
In Entsprechung dazu erscheint beruflicher Erfolg heute weniger als Funktion von Kühnheit, Glück und Intuition, sondern als berechenbarer Ausfluss einer Kombination von prestigeträchtigen Diplomen, strategischen Kontakten und standardisiertem Verhalten. Für das Unternehmertum scheint dies ebenso zu gelten wie in den Bereichen von Recht und Medizin.
Risiko des Abstiegs wurde ausgeschaltet
Im Kontext einer solchen Kultur werden Wagemut und Risikofreude zuletzt ganz verdrängt; schon heute hat beides einen schweren Stand. Moderne Wirtschafts- und Sozialpolitiken zielen darauf ab, den Reichtum der Reichen ebenso zu mässigen wie die Armut der Armen. Zumal am oberen Ende ist das Scheitern solcher Versuche offenkundig; progressiver Besteuerung zum Trotz bleiben markante Ungleichheiten dort bestehen. Nach oben scheint soziale Mobilität zwar noch zu funktionieren; auf jener Seite haben politische Anstrengungen zur Tilgung von Risiken weniger Spuren hinterlassen.
Anders lautet der Befund in der gegenläufigen Richtung. Hier haben sozialpolitische und regulatorische Interventionen, hier hat nicht zuletzt auch die grassierende Entkoppelung von Freiheit und Verantwortung die schiere Möglichkeit von Abstieg verringert.
Wer heute ein Unternehmen gegen die Wand fährt, muss nicht länger dafür geradestehen. Auch andere Risiken und mit ihnen verbundene Verluste sind schlicht weggefallen. So bleibt die Erkenntnis, dass die Metapher von den Hemdsärmeln wirklich nicht mehr greift.
Selbst wenn Auftrieb und Abtrieb sich die Waage halten und einen perfekten Kreislauf bilden, können sämtliche Mitglieder einer Gesellschaft immer noch wohlhabender oder aber ärmer werden. Treten umgekehrt deutliche Veränderungen in der Einkommensverteilung einer Gesellschaft auf, mögen wir daraus auf ein Ungleichgewicht zwischen Auftrieb und Abtrieb schliessen und — sofern wir solche Veränderungen in Richtung und Ausmass begrüssen — die Vorzüge sozialer Mobilität unterstreichen.
Generell sind wir aber gut beraten, soziale Mobilität weder positiv noch negativ zu bewerten. In Ermangelung robuster Evidenz wissen wir schlicht zu wenig darüber, ob das, was wir im Kontext sozialer Mobilität als Auftrieb oder als Abtrieb interpretieren, eine Verschiebung in der Einkommensverteilung bloss anzeigt oder aber verursacht.
Wo kein Abstieg mehr möglich ist, vergrössert sich die Ungleichheit
Bis auf weiteres steht die unbequeme Erkenntnis im Raum: Wo wir grosse Anstrengungen unternehmen, um sozioökonomische Mobilität in der Abwärtsrichtung zu stoppen, erreichen wir am Ende vielleicht nur eine Akzentuierung und Verfestigung von Ungleichheit aus der Konzentration von Einkommen weit oberhalb des Medians.
So lückenhaft die Evidenz auch in dieser Hinsicht bleibt, so stützt sie doch die Vermutung, dass soziale Mobilität nach unten deutlich verringert worden ist, während sie nach oben noch einigermassen funktioniert. In dieser Konfiguration wird soziale Mobilität Ungleichheit auf jeden Fall vergrössern, weil Einkommen und Vermögen fortgesetzt nach oben wandern und dort bleiben, ohne dass ein Abtrieb in die andere Richtung zu ziehen vermag. Einmal mehr bewirken progressives Denken und progressive Politiken das Gegenteil von dem, was wir erreichen wollen. Und sie führen zu Ergebnissen, die wir beschämt verschweigen.
Übersetzt von Christoph Frei. Dieser Artikel wurde in der Neuen Zürcher Zeitung publiziert. Mit freundlicher Genehmigung.