Wenn es um Tod und Leben geht, streiten Liberale gerne miteinander. Welches Recht soll ein Mensch auf sein Eigentum über seinen Tod hinaus besitzen? Ist es wirklich gerechtfertigt, dass Tote den Lebenden bindend ihren Willen diktieren? Werden nicht durch die Weitergabe von Vermögen an spätere Generationen Chancen asymmetrisch zugewiesen, die niemals durch noch so grosse Leistungsanstrengungen jener, die leer ausgingen, später wieder wettgemacht werden können?
Erbrecht und Privateigentum
Der Streit um das Erbrecht ist ein Paradekonflikt der liberalen Weltdeutung. Denn unversöhnt prallen bis heute ihre fundamentalen Überzeugungen aufeinander: Je unhintergehbarer das Privateigentum als menschliches Freiheitsrecht gefasst wird, umso apodiktischer verbietet sich jeglicher Eingriff in den Verfügungswillen des Erblassers über sein Eigentum. Das freilich schafft Ungleichheiten, die für Liberale anstössig sein müssen: Denn die Weitergabe von Eigentum über viele Generationen hinweg verhilft den Nachkommen ein Leben lang zu Privilegien, die sie sich nie und nimmer selbst verdient haben könnten. Nichts aber hasst der Liberale mehr als Privilegien. Ungleichheit scheint ihm nur dann gerechtfertigt, wenn sie sich auf eigene Leistung stützt. Ein Erbe hingegen bringt Vorteile fürs Leben: unverdient und lebensbestimmend.
Geschätzte 3000 Milliarden Euro werden die Deutschen bis 2020 erben. Eine sprichwörtliche Generation der Erben muss sich die Frage nach der Gerechtigkeit unverdienten Vermögens neu Gefallen lassen — unabhängig von der Tatsache, dass der Anteil der Erbschaftsteuer am Steueraufkommen zwar zwischen den Staaten erheblich differiert, insgesamt aber überall nur einen geringen Prozentsatz ausmacht. Denn es gibt den begründeten Verdacht, dass die Dynastie der Erben nicht unerheblich ist für die Vermögensverteilung einer Gesellschaft.
Dass das Erbrecht soviel Anlass für liberalen Streit bietet, ist nicht zuletzt historisch begründet. Die Wurzeln des Liberalismus liegen in der europäischen Aufklärung. Aufklärung aber war die Revolte des Bürgertums gegen die Aristokratie. Die Waffen in diesem Kampf hiessen Moral und Leistung: Subversive Strategien gegen die ererbte Vorherrschaft der Aristokratie.(1) Wettbewerb, das liberale Fairnessprinzip, ist allemal ein Entmachtungsverfahren, dessen Regel lautet: Mach es besser oder mach es billiger. Wer sich so gerüstet auf dem Markt durchsetzen kann, dem dürfen auch Eigentumsprivilegien des Blutes nicht das Recht streitig machen, die Früchte seines Erfolgs zu geniessen. Die Aufklärung verhalf dem meritokratischen Prinzip — und mit ihm dem Bürgertum — zur Macht. Die Überzeugung, dass Leistung sich lohnt, ist bis heute das Schmiermittel der protestantischen, kapitalistischen Ethik.
Damit musste aber die Aufklärung in Konflikt geraten mit der Geltung von Eigentumsrechten, mithin mit Grundprinzipien der neuzeitlichen Ordnung. Denn auf Privateigentum und Vertragsfreiheit ruht alle Rechtsstaatlichkeit (Rule of Law). Sie einzuschränken verletzt ein fundamentales Recht menschlicher Freiheit. Privateigentum ist zugleich die Bedingung der Möglichkeit funktionierender Märkte. Denn nur, wer sich darauf verlassen kann, dass sein Eigentum ihm und seinen Nachkommen sicher ist, wird sparen und investieren in der Absicht, dieses Eigentum für kommende Generationen zu mehren. Warum sollte dieses Recht auf Privateigentum mit dem Tod erlöschen?
Mehr noch: Nur über das Privateigentum erhält die Familie ihre generationsübergreifende (dynastische) Kontinuität. Das aber treibt jegliche wirtschaftliche Dynamik an: «Die DNA-Ketten halten die kapitalistische Wirtschaftsordnung zusammen, nicht etwa jene allegorischen Ketten, die zu sprengen Marx und Engels am Ende des Kommunistischen Manifests forderten», schreibt der Wirtschaftshistoriker Harold James in seiner grossen Studie über den Familienkapitalismus.(2) Kein Wunder, dass die Geschichte der Familie massgeblich geprägt wird vom Wandel des Rechts auf Privateigentum.
Im Streit zwischen Privateigentum und Leistungsprinzip entscheidet sich, welche Rolle der Staat im Erbfall übernimmt. Je stärker das meritokratische Prinzip betont wird, umso bereitwilliger werden auch von Liberalen dem Staat Eingriffsrechte in Erbrecht und Erbschaft zugebilligt. Der Staat nimmt und verteilt, damit Chancengleichheit möglich wird. Im Extremfall fordert die radikale Meritokratie eine konfiskatorische Erbschaftssteuer. Je «heiliger» dagegen das Privateigentum ist, umso mehr wird der Staat sich zurückhalten an der Schwelle von Tod und Leben. Im Extremfall verbietet sich jeglicher Zwangsgriff auf den im Vermögen geronnenen Leistungsausweis eines Lebens.
Faktisch wird das Erbrecht einer Gesellschaft Ausdruck eines Kompromisses der beiden miteinander streitenden Gerechtigkeitskonzeptionen. Im Erbrecht sedimentiert sich die Gerechtigkeitsphilosophie einer Nation.(3) Doch normativ wird man sich entscheiden müssen: Vorfahrt für das Privateigentum oder Vorfahrt für die Meritokratie?
Vererbungstheorien
Warum vererben Menschen ein Vermögen?(4) Wer streng — und eng geführt — rationalistisch argumentiert, muss die Erbhinterlassenschaft für einen unbeabsichtigten Unfall am Lebensende halten. Denn rational wäre es, alle Ersparnisse im Laufe eines Lebens auch zu konsumieren, lässt sich doch am Lebensende ausser dem Leichentuch nichts mitnehmen. Und dieses hat bekanntlich keine Taschen. Dass trotzdem etwas übrig bleibt, wäre so gesehen nur Ausfluss des Umstandes, dass der Zeitpunkt des Todes niemandem bekannt ist und deswegen eine angemessene Vorratshaltung und die Möglichkeit grösserer Konsumwünsche vernünftigerweise einzukalkulieren wären. Wer ein derart eingeschränktes, egoistisches Konzept für realistisch hält, hat auch die geringsten Probleme gegenüber einer relativ zugreifenden Erbschaftsteuer. Denn noch nicht einmal der Erblasser selbst wollte sein Vermögen künftigen Generationen hinterlassen. Das mindert die Skrupel des Staates erheblich.
Man muss nicht gleich zum radikalen Altruisten werden, um dem Erblasser ein gewisses Mass an Rationalität zu attestieren. Denn aus seiner Sicht verspricht ihm die Weitergabe seines Vermögens durchaus einen Nutzen zu Lebzeiten. Die Kinder — oder andere mögliche Erben — werden besonders hilfreich und freundlich sein, um sich das Erbe nicht zu verderben. In dieser Betrachtung ist die Übertragung von Vermögen auf die Nachkommen ein Tauschgeschäft zwischen den Generationen — ein Generationenvertrag, um vieles vernünftiger als der fiktive Generationenvertrag der kollektiven Sozialversicherung.
Das ist freilich noch nicht die ganze Wahrheit. «Was wir den Familiengeist heissen», schreibt Alexis de Tocqueville, «beruht oft auf einer von der Selbstsucht ausgehenden Täuschung des einzelnen. Man möchte sich selbst durch die spätere Nachkommenschaft Fortdauer sichern und verewigen.»(5) Mit anderen Worten: Die Motivation, nach dem Tod ein Vermögen zu hinterlassen, ist Folge der Kränkung durch die menschliche Endlichkeit. Wenn ich schon nicht unsterblich bin, dann soll zumindest hier auf Erden mein Erbe künftige Generationen immer an mich erinnern. Die Einrichtung des Fideikommisses, welche für spätere Generationen die Verfügung über das Erbe einschränkt, speist sich aus dieser Motivation. Der Verzicht darauf, das gesamte Vermögen zu Lebzeiten zu verzehren, wird wettgemacht durch den bedeutungssteigernden Nutzen, auch Jahrhunderte später werde die Erinnerung an das erfolgreiche Lebenswerk nicht erloschen sein.
Diese — letztlich wohl zentrale — Erbmotivation erhoffter Unsterblichkeit macht sich das Erbrecht zunutze. Je stärker die Erbschaftssteuer auf das Vermögen zugreift, umso stärker wird sie das Vermögen in Stiftungen umlenken, die ihrerseits dafür bürgen, dass der Stifter nicht vergessen ist. Denn an der Stiftung und ihren «Endowments» haftet für immer der Name des Stifters: ob wir Musik hören in der Carnegie Hall in New York oder studieren an der Carnegie-Mellon University in Pittsburgh.
Beileibe nicht ausgemacht ist indessen, dass die Übertragung eines Vermögens Leistungsanreize bei der nächsten Generation setzt. Denkbar ist sogar das Gegenteil: Wer die Aussicht auf ein grosses Erbe hat, muss sich selbst nicht anstrengen, denn es wird ihm auch ohne eigene Leistung zufallen. Solch opportunistisches Verfahren wird als «Samariter-Dilemma» beschrieben:(6) der Altruismus schafft sich seine Opfer; die Barmherzigkeit produziert Hilflosigkeit.
Damit wird aus dem Gründerdilemma ein Dilemma des Erbrechts: Denn einerseits lässt sich mit Fug und Recht argumentieren, nur die Übertragbarkeit des Eigentums auf die Nachfahren sei hinreichende Leistungsmotivation. Wer gewärtigen muss, dass die Früchte seiner Anstrengung vom Staat sozialisiert werden, wird sich nicht anstrengen. Und wer durch eine hohe Erbschaftssteuer um den Bestand seines Unternehmens bangen muss, wird die Firma rechtzeitig an Fremde verkaufen. Was aber aus Sicht des Erblassers leistungsfördernd ist, kann sich aus Sicht des Erben schnell als leistungsfeindlich darstellen. Wer unverdient erhält, braucht selbst nichts mehr zu verdienen.
Stärker ist freilich in den allermeisten Fällen jener im Gewissen verankerte Auftrag der Vorfahren: «Was Du ererbt von Deinen Vätern». In vielen Unternehmer- oder Grundbesitzerfamilien gilt das eherne Gesetz, das Ererbte zu mehren und die Substanz auf gar keinen Fall anzugreifen. Die Verpflichtung wirkt mindestens genauso stark, als hätten sie das Vermögen selbst erarbeitet — wenn nicht stärker: denn das Erbe ist sakrosankt.
Christliches Abendland und Privateigentum
Das christlich geprägte Europa hatte immer ein ambivalentes Verhältnis zum Privateigentum. Die Evangelien loben jene, die um der Nachfolge Jesu willen all ihren persönlichen Besitz aufgeben. Eher geht bekanntlich ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt.(7) Es ist nicht zu übersehen, dass das ganze Neue Testament durchzogen ist von der Überzeugung, es wäre besser, wenn allen alles gemeinsam gehörte. Die Utopie eines christlichen Kommunismus übt bis heute auf viele eine große Verführungskraft aus. Diese Sehnsucht zielt auf die Herstellung von Gleichheit.
Einzig in der spanischen Spätscholastik im 16. Jahrhundert, etwa bei Luis de Molina (De Iustitia et de Iure) oder Antonio de Escobar y Mendoza (Universae Theologiae Moralis), finden sich Ansätze zu einem positiven Eigentumsbegriff, der sowohl mit natürlichem wie auch mit göttlichem Recht vereinbar ist: Nur der Schutz des Privateigentums, schreiben die spanischen Scholastiker, garantiert, dass die Menschen die Schöpfung nicht verkommen lassen. Alle Nächstenliebe und aller christliche Altruismus setzen die Möglichkeiten des Privateigentums notwendig voraus. Denn geben kann nur, wer etwas hat, was ihm auch gehört. Genauso setzt auch das Gebot, nicht zu stehlen, das Privateigentum voraus.(8)
Doch die Spanier sind die Ausnahme. Der abendländische Mainstream geht anders. Selbst die Reformatoren, die von Max Weber als Kronzeugen einer kapitalistischen Dynamik in Anspruch genommen werden, finden kein ungebrochen positives Verhältnis zum Privateigentum. «Daraus, dass alles zu Privateigentum geworden ist, lernen wir alle, dass wir Sünder sind», schreibt Zwingli:(9) «Denn was Gott uns frei gibt, machen wir zu Eigentum». Für die christliche Theologie ist das Äquivalenzprinzip im Schöpfungsakt ausser Kraft gesetzt. Gott hat den Menschen die Erde hinterlassen, ohne dafür eine Gegenleistung zu verlangen. «Denn er ist weder eigennützig noch Gelüsten unterworfen», schreibt Zwingli.
Kein Wunder, dass für die Aufklärer des 17. und 18. Jahrhunderts das Privateigentum nicht als absolutes Freiheitsrecht galt. Vielmehr steht es selbst zur Disposition des Gesetzgebers. «Eigentum ist nur auf der Grundlage einer gesellschaftlichen Lebensform möglich und daher, wie die anderen Vorzüge, über welche die Gesellschaft befindet, Gesetzen und Bedingungen unterworfen», schreibt Mirabeau 1791.(10) Damit bedurfte es für die Helden der Revolution, und später für den Code Napoléon, überhaupt keiner legitimatorischer Klimmzüge, im Interesse der Gleichheit der Erben die Testierfreiheit — also das Recht des Erblassers, sein Vermögen gemäss seinem Freiheitswillen weiterzugeben an wen er will — abzuschaffen, war man doch der Meinung, das adelige Erstgeburtsrecht (droit d’aînesse) verletze die Gleichheit eklatant und sei verantwortlich für die Machtfülle der Aristokratie. Sich über die Freiheit des Eigentums hinwegzusetzen, war nicht wirklich tragisch, waren doch die Aufklärer der Überzeugung, die Eigentumsrechte endeten ohnehin mit dem Tod.
Die wirtschaftsgeschichtlichen Folgen dieses Eingriffs in die Eigentumsordnung und des Zwangs zur Realteilung können gar nicht überschätzt werden. Abermals hat sie niemand besser beschrieben als Tocqueville: «Der Tod jedes Eigentümers bringt gemäss dem Erbgesetz eine Umwälzung im Eigentum; die Güter wechseln nicht nur ihren Herrn, sondern sozusagen ihr Wesen; sie zersplittern sich in immer kleinere Stücke.»(11) Während sich bei jenen Völkern, welche die Erfolge zugunsten des Erstgeburtsrechts ordnen, der «Familiengeist gleichsam im Boden» verwirkliche, müssten sich bei Realteilung die grossen Vermögen und Grossgrundbesitztümer rasch auflösen, schreibt Tocqueville. Es zerstöre zugleich die Bindung zwischen Familiengeist und Boden. Das genau war ja auch die beabsichtigte, antiaristokratische Stossrichtung der Französischen Revolution.
Die angelsächsische Tradition
Auch die angelsächsische Tradition hat bekanntlich keine Scheu, in das Privateigentum beim Übergang des Vermögens auf die nächste Generation einzugreifen. John Stuart Mill, Protagonist der liberalen Freiheitsbeschränkung im Erbrecht, und alle seine Nachfolger argumentieren indessen komplett anders als die französischen Aufklärer. Nicht egalitär-demokratisch, sondern diskretionär-meritokratisch wird von Mill der Eingriff begründet.
Denn die amerikanische Gesellschaft versteht sich als eine Leistungsgesellschaft. Der Verteilungswirkung des Einkommens durch Leistung steht aber die Verteilungskraft des Erbes diametral entgegen. Der Zufall der Geburt verzerrt die Leistung, er muss deshalb nach Kräften in seiner Wirkung unschädlich gemacht werden. Kein Wunder, dass die Vereinigten Staaten bis heute international relativ hohe Nachlasssteuern von ihren Bürgern nehmen; in den hohen Zeiten des «New Deal» betrug der Spitzensatz 77 Prozent.
Das finden in den Vereinigten Staaten auch die Superreichen nicht nur in Ordnung, sondern zwingend geboten. Als im Frühjahr 2001 die Idee aufkam, die Erbschaftssteuer abzuschaffen, waren es prominente steinreiche Vermögensbesitzer — darunter Warren Buffet, Georges Soros und Bill Gates — die warnten, eine solche Gesetzesänderung unterminiere die Grundlagen der amerikanischen Kultur. In einem Aufruf, der in verschiedenen Tageszeitungen veröffentlicht wurde, schrieben die Autoren, eine Abschaffung der Nachlassteuer wäre «bad for our democracy, our economy, and our society».(12) In der Tradition der reichen Industriellen des 19. Jahrhunderts warnen sie vor der Entstehung einer «aristocracy of wealth». Dahinter verbirgt sich beileibe nicht die egoistische Angst der Reichen, allzu viel Reichtum könne womöglich zu sozialen Spannungen führen und sich gegen die Vermögenden selbst wenden. Vielmehr ist es die stolze Überzeugung der Erfolgreichen, ihr Erfolg sei eigener Leistung geschuldet und nicht dem Erfolg anderer. Vor dem aristokratischen Prinzip wird im liberalen Amerika gewarnt, einerlei ob es sich auf Blut oder Geld bezieht.
Doch wie steht es mit dem meritokratischen Prinzip, welches anscheinend auch für viele Liberale gegenüber jeglicher Kritik erhaben ist? Einzig der Ökonomie-Nobelpreisträger Milton Friedman erlaubte sich schon vor mehr als 25 Jahren, seine Plausibilität in Frage zu stellen.(13)
Einer Illusion renne nach, meint Friedman, wer meine, es sei möglich, Chancengleichheit herzustellen. Das menschliche Leben beginnt nicht am voraussetzungslosen Nullpunkt; es lässt sich auch nicht um die verzerrenden Einflüsse der Zufälle der Geburt bereinigen. Erbschaft, sagt Friedman, ist nur einer der vielfältigen Zufälle der Geburt — neben unterschiedlichen Talenten und körperlichen Schwächen und Stärken. Heute müsste man wohl noch hinzufügen: neben unterschiedlichen genetischen Prägungen. Das zeigt die Falle, in welche all jene geraten, die meinen, Chancengleichheit durch gleiche Startbedingungen konstruieren zu können: Konsequent müssten sie auch dafür argumentieren, mittels genetischer Manipulation die Fähigkeiten und Möglichkeiten aller Neugeborenen einander anzugleichen. Denn andernfalls ist weder Chancengleichheit noch Meritokratie gegeben.
Am Beginn des Lebens stehen wir nicht als Gleiche, sondern als Ungleiche da. Der Urzustand der Chancengleichheit ist eine Fiktion. Sie entspringt der Illusion eines Machbarkeitswahns, vor dem Liberale sich eigentlich hüten sollten. Denn sie führt in das gefährliche Fahrwasser notwendiger Interventionen im Sinne gleicher Startbedingungen (level playing field), gleich langer Spiesse und dergleichen. Bedingungen, die erst gegeben sein müssen, damit es im Wettbewerb fair zugehe. Wer gleiche Wettbewerbsbedingungen herstellen will, entlarvt sich rasch als Technokrat, der dem Wettbewerb in Wirklichkeit misstraut.
Ohnehin belegen neuere soziologische Untersuchungen, dass die Meritokratie nichts anderes als eine neue Form der Klassengesellschaft der Leistungsmilieus konstituiert, welche die alte Klassengesellschaft ersetzt, in welcher nur die ererbten Privilegien zählten.(14) Eltern mit Geld, guter Bildung und Kontakten werden genau diese Werte ihren Kindern in frühen Jahren weitergeben und damit deren Erfolg massgeblich mitbestimmen. Ist das nun Leistungs- oder Klassengesellschaft? Wer in der amerikanischen Leistungselite geboren wird, kommt in den Genuss von Privilegien, wie sie niemandem sonst in der Welt zuteil werden. Wer wollte ihnen das verbieten, mit dem Argument, ein solches meritokratisches Milieu schränke die Chancengleichheit — und damit die Meritokratie ein? Das wäre absurd.
Liberale Skepsis gegenüber der Erbschaftssteuer
Aus all dem lassen sich am Ende zwei systematische Schlüsse ziehen: 1. Liberale sollten sich von der Idee der Chancengleichheit nicht allzu sehr verführen lassen. Und 2. Liberale sollten gegenüber der Idee einer Erbschaftssteuer und eines intervenierenden Erbrechts ausserordentlich skeptisch sein.
- Wettbewerb ist die phantastische Chance, dass die Unterprivilegierten die Privilegierten entmachten können. Dazu bedarf es nicht erst eines (staatlichen) Interventionisten, der Chancengleichheit herstellt. Kleine neue Firmen lassen die Marktführer alt aussehen. Und die Dümmeren stellen häufig — clever wie sie sind — die Intelligenz in den Schatten. Jeder hat mit seinen unterschiedlichen Talenten, familiären, sozialen, kulturell geprägten Voraussetzungen die Chance, das Beste daraus zu machen. Die Idee der Gleichheit, der sich die Liberalen verpflichtet fühlen sollten, ist weder die Chancen- und schon gar nicht die Ergebnisgleichheit, sondern die Rechtsgleichheit. «Gleichheit der Freien ist Rechtsgleichheit und nicht Verteilungs- oder Ergebnisgleichheit», sagt der Verfassungsrichter Udo Di Fabio. Rechtsgleichheit sichert den Raum, in welchem sich die natürlichen Ungleichheiten unterschiedlicher Begabungen auf den Märkten im Wettbewerb entfalten.
- Wenn aber Freiheit vor der Gleichheit rangiert, dann muss auch die Freiheit des Eigentums vor der gleichheitsgetriebenen Utopie der Meritokratie rangieren. Und zwar aus philosophischen Gründen der Gerechtigkeit und nicht aus ökonomischen Gründen der Effizienz. Das spricht für die Verfügungsfreiheit über das Privateigentum und gegen seine Besteuerung.
Anmerkungen:
(1) Vgl. Reinhard Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Freiburg 1959.
(2) Harold James: Familienunternehmen in Europa. Haniel, Wendel und Falk. München 2005, 8.
(3) Vgl. zur Gerechtigkeitsdebatte die vorzügliche Studie von Jens Beckert: Unverdientes Vermögen. Soziologie des Erbrechts. Frankfurt 2004.
(4) William G. Gale/Joel B. Slemrod: Life and Death Questions About the Estate and Gift Tax. In: National Tax Journal vol. 53, no 4 Part 1. December 2000, 889-912.
(5) Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika. Teil 1, Zürich 1978, 76.
(6) Gale/Slemrod, 901.
(7) Lukas. 18,18-25.
(8) Alejandro A. Chafuen: Private Property. In: Faith and Liberty. The Economic Thought of the Late Scholastics. Lanham 2003, 31—50.
(9) Huldrich Zwingli: Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit. In: Ausgewählte Schriften (hrsg. von Ernst Saxer), Neukirchen-Vluyn 1988, 88—111. Hier: 89.
(10) Zit. Nach Beckert , 41.
(11) Tocqueville, 74.
(12) Vgl. Beckert 243.
(13) Milton und Rose Friedman: Chancen, die ich meine. Berlin 1980. Vgl. auch Friedrich A. von Hayek: Die Verfassung der Freiheit. Tübingen 1971.
(14) Joseph Ferrie: The End of American Exceptionalism. Occupational and Geographic Mobility in the US 1850-2000. Working Paper.
(15) Udo Di Fabio: Die Kultur der Freiheit. München 2005, 109.
Dr. phil. Rainer Hank ist Leiter der Redaktion Wirtschaft, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung.