Javier Milei scheint manchen Angst zu machen. Gegen den von einem grossen Polizeiaufgebot begleiteten Auftritt des neuen argentinischen Präsidenten in Deutschland demonstrieren linke Aktivisten. Um Milei in privatem Rahmen ungestört empfangen zu können, muss der Gastgeber, die Friedrich-August-von-Hayek-Gesellschaft, für einen fünfstelligen Betrag einen privaten Sicherheitsdienst engagieren.
Ausgezeichnet wurde der vom Ökonomieprofessor zum liberalen Hoffnungsträger gewordene Milei am Samstag in Hamburg von dem liberalen Think-Tank mit der Hayek-Medaille, die früher unter anderem auch der polnische Reformer Leszek Balcerowicz erhalten hatte. Dabei konnte man einen – wie immer in Begleitung seiner Schwester auftretenden – sichtlich gelösten, zuweilen nachdenklichen und keineswegs aggressiven, aber leidenschaftlichen Liberalen erleben, der von Teilen der im Publikum anwesenden Argentinierinnen wie ein Pop-Star gefeiert wurde.
Ein Popularisierer freiheitlicher Ideen
Wie der Präsident der Hayek-Gesellschaft, der Ökonom Stefan Kooths, in seiner Laudatio ausführte, sehen die Hayekianer in Milei einen jener seltenen politischen Bahnbrecher, die glücklicherweise zuweilen in höchster Not auftauchen, um einem ökonomischen und meist auch gesellschaftlich zerrütteten Land die Chance zu geben, aus den Sackgassen herauszufinden, in die sie die Blockaden des Interventionismus geführt haben.
Der argentinische Präsident sei kein Populist, sondern ein Popularisierer freiheitlich-marktwirtschaftlicher Ideen, erklärte Kooths. Milei stehe für einen grundlegenden Kurswechsel ohne populistische Versprechungen auf billige Lösungen und ohne die paternalistische Attitüde eines immer weiter wuchernden Wohlfahrtsstaats, der am Ende nur das wachsende Elend verwalte. Stattdessen löse Milei die Fesseln, die die Menschen daran hinderten, sich selbst zu helfen. Er gebe seinen Landsleuten das Selbstvertrauen zurück, und genau das mache ihnen Hoffnung – und zwar berechtigte Hoffnung.
Auf der Suche nach den Treibern des Wohlstands
In seiner Erwiderung in freier Rede gab sich Milei als differenzierter, lernfähiger Ökonom zu erkennen. Wie alle in Argentinien habe er ursprünglich keynesianische Ökonomie studiert und gelehrt. Sein Denken habe er auf der Suche nach überzeugenden Antworten auf ihn drängende Fragen allmählich weiterentwickelt.
Da er gut mit mathematischen Modellen umgehen konnte, habe er sich zuerst in der Welt der keynesianischen und neokeynesianischen makroökonomischen Gleichgewichtsmodelle wohlgefühlt.
Doch dann habe er zunehmend irritiert bemerkt, dass diese immer wieder falsche Ergebnisse lieferten und Erwartungen weckten. Darauf habe er sich in die neoklassische mikroökonomische Theorie der Entscheidfindung, der Marktstrukturen und des Wettbewerbs vertieft.
Aber auch diese hätten ihm auf seiner Suche nach den Treibern des Wohlstands und der Frage, wieso es Argentinien, das einst zu den reichsten Ländern der Welt gehörte, immer schlechter ging, keine wirklich befriedigenden Antworten geliefert. Darauf studierte Milei die klassische Wachstumstheorie.
Seinen «Erweckungsmoment» erlebte Milei offenbar, als er für einen frühen Vortrag am World Economic Forum in Davos Angus Maddisons historische Daten der Wirtschaftsentwicklung analysierte. Dabei habe er realisiert, wie sich der Wohlstand pro Kopf nach dem Jahr null 1800 Jahre lang nur sehr, sehr wenig verändert habe, bis er im Zeichen der Industrialisierung plötzlich exponentiell zu wachsen begann. Mehr noch, er konnte dies nicht mit dem Einsatz von Arbeit und Kapital und abnehmendem Grenznutzen oder mit Skalenerträgen erklären, wie ihm dies die Wachstumsmodelle nahelegten.
Stattdessen kam Milei zum Schluss, dass es eindeutig Monopolgewinne innovativer Unternehmen waren, welche die Entwicklung antrieben und die Massen aus der Armut befreiten. Etwas, das er bisher für schlecht gehalten hatte.
«Da habe ich gelernt, dass ich lauter sprechen muss»
Weil seine Modelle dies nicht erklären konnten, sei er richtiggehend verzweifelt gewesen, erklärte Milei. Er fühlte sich schuldig, seine Studenten Unsinn gelehrt zu haben. Da habe ihm einer seiner Assistenten einen Artikel des libertären amerikanischen Ökonomen Murray Rothbard zum Lesen gegeben. Milei erkannte darin Antworten, die er suchte.
«Es war nicht einfach, in Argentinien Bücher der Anhänger der sogenannten ‹österreichischen Schule› zu finden», erzählte Milei in Hamburg. Doch schliesslich habe er sein ganzes Geld in insgesamt fünfzig Bücher von Rothbard, Ludwig von Mises, Friedrich von Hayek und des peruanischen Entwicklungsökonomen Hernando de Soto investiert und alle vom Anfang bis zum Ende gelesen; einige sogar zweimal.
Milei erkannte die zerstörerische Rolle des Kollektivismus und Interventionismus und die zentrale Bedeutung der individuellen Freiheit. Er begann die Ideen der Freiheit in Talkshows im argentinischen Fernsehen zu verteidigen. Am Anfang seien alle gegen ihn gewesen. In einer Debatte habe man ihm gesagt, die Anhänger seiner obskuren Freiheitsideen würden alle zusammen in einen Lift passen. Das habe er nicht auf sich sitzen lassen wollen. «Und da habe ich gelernt, dass ich lauter sprechen muss, um überhaupt gehört zu werden.»
So ist der akademische Ökonom offenbar zum Freiheitskämpfer geworden.
«Gib doch einfach Unterricht auf der Strasse»
Richtig politisiert hat Milei offenbar die Pandemie. Viele Junge hätten damals den Wert der Freiheit entdeckt. Er habe in seinen Auftritten versucht, seine Ideen der Freiheit so herunterzubrechen, dass sie ein Vergnügen seien wie ein Rolling-Stones-Konzert, erinnert sich der heutige Präsident. Seine Fernsehauftritte seien immer populärer geworden – so populär, dass sich die Linke im Land bedroht gefühlt habe. Ihre Vertreter hätten die nationalen Fernsehanstalten davon überzeugt, ihn nicht mehr auftreten zu lassen. Da habe seine Schwester wieder eine gute Idee gehabt und ihm gesagt: «Wenn die Jungen deine Vorlesungen so mögen, gibt doch einfach Unterricht auf der Strasse.»
Gleichzeitig habe er realisiert, dass die Fans im Fussballstadion zwar schön singen, aber nie den Ball ins Tor bringen könnten. «Der einzige Weg, echte Veränderung zu bringen, liegt darin, das System von innen mitzuspielen und zu ändern.» Deshalb habe er eine neue Partei gegründet. Die herrschende politische Kaste habe ihm und seinen Mitstreitern alle nur erdenklichen Steine in den Weg gelegt; es sei ein Spiel David gegen Goliath gewesen. Doch schliesslich habe eine Mehrheit der Wähler verstanden, dass es nach über hundert Jahren Niedergang einen radikalen Wechsel braucht.
Im November vergangenen Jahres wurde Milei mit 55 Prozent der Stimmen zum neuen Präsidenten Argentiniens gewählt; im Dezember hat er sein Amt angetreten.
Erst am Anfang
Den Reformern war laut Milei bewusst, dass es schwierig werden würde. Aber sie waren und sind überzeugt, dass nur eine schnelle Schocktherapie das Land wieder auf die Beine bringen kann. Bei der Amtsübernahme habe die Inflation auf das Jahr gerechnet 16 000 Prozent betragen, über 50 Prozent pro Monat. Die Wirtschaft sei zerstört gewesen, grosse Defizite im Finanzhaushalt und in der Leistungsbilanz hätten das Land geschwächt.
Milei halbierte per Dekret die Zahl der Ministerien, reduzierte die Bürokratie und schaffte zahllose Regulierungen ab. Indem er die Staatsausgaben radikal von 37 auf rund 22 Prozent der Wirtschaftsleistung reduzierte, gelang es Argentinien erstmals, den Staatshaushalt auszugleichen. Auch das chronische Leistungsbilanzdefizit hat Milei geschlossen. Die Inflation ist auf einstellige Werte pro Monat gesunken. Und das ohne Preiskontrollen, mit flexiblem Wechselkurs und ohne die Sparer zu enteignen, betont Milei.
Doch der Preis der Schocktherapie ist eine schwere Rezession.
Milei hält dem entgegen, dass nun erstmals die Löhne schneller wachsen als die Inflation. Das erste Quartal habe einen sehr harten Rückgang der Wirtschaftsleistung gebracht, doch seit April wachse die Wirtschaft im Vormonatsvergleich bereits wieder. Es gebe Grund zur Hoffnung. Für Milei ist klar: Die Sozialisten versuchen sich auf der Strasse gewalttätig zu wehren, weil seine Politik funktioniert.
Und das sei erst der Anfang. Mit den bisherigen Massnahmen habe seine Mannschaft 800 Strukturreformen angepackt, erzählt Milei. Geplant seien nun weitere 3000. «Wir werden weiterkämpfen.»
«Verteidigen Sie Ihre Ideen mit Leidenschaft»
«Und noch etwas», wandte sich Milei zum Schluss in Hamburg direkt an die in der Hayek-Gesellschaft versammelten deutschsprachigen Liberalen: «Verteidigen Sie Ihre Ideen mit Leidenschaft. Die Ideen der Freiheit sind so stark, dass sie gewinnen werden, auch wenn zuerst alle dagegen sind.» – Die Angesprochenen verdankten es ihrem neuen Preisträger mit Wuschelkopf und Krawatte mit tosendem Applaus.
Bleibt zu hoffen, dass Interventionismus und Korporatismus die Länder in Europa nicht zuerst so herunterwirtschaften müssen, wie dies in Argentinien der Fall war, bevor Liberale erfolgreich zur Korrektur ansetzen.
Dieser Artikel von Peter Fischer ist am 22. Juni auf der Website der NZZ erschienen.
PS: Am 14. Oktober 2024 geht es am LI-Gespräch mit Prof. Philipp Bagus in Zürich ebenfalls um Javier Milei. Die Platzzahl ist beschränkt. Es gilt «first come, first served». Zur Anmeldung.