Mit dem rasanten Anstieg der Lebensstandards in den letzten Jahrzehnten einher ging ein wachsendes Bedürfnis, das Erreichte durch politische Massnahmen abzusichern. Dieser nachvollziehbare Wunsch kann jedoch bei einem krampfhaften Festklammern am Status Quo ungewollte Folgen haben.
Weshalb sind Werte wie unternehmerisches Wagnis, wirtschaftliche Freiheit und Streben nach Fortschritt, die im Zuge des Aufstiegs noch im Zentrum standen, einer übervorsichtigen Vollkasko-Mentalität gewichen? Welche Massnahmen sind dazu geeignet, Risiken zu minimieren und welche führen lediglich zu einer Verlagerung oder sogar Vergrösserung der Risiken? Ist eine Null-Risiko-Gesellschaft längerfristig in der Lage, Frieden, Freiheit und Wohlstand zu schaffen? Im Rahmen der LI-Konferenz vom 9. Juni 2021 wurden diese Fragestellungen vertieft diskutiert. Der Anlass war zugleich die Buchvernissage des neuen Bands der Edition Liberales Institut mit dem Titel «Null-Risiko-Gesellschaft: Zwischen Sicherheitswahn und Kurzsichtigkeit» (herausgegeben von Olivier Kessler und Beat Kappeler).
Einführend stellte LI-Direktor Olivier Kessler fest, dass das heutige Geschehen zunehmend von Zukunftssorgen, Abstiegsängsten und Risikoaversion dominiert wird. Es herrsche immer mehr die Überzeugung vor, man könne jegliche Volatilität, Ungewissheit und Gefahr mit staatlichen Eingriffen verbannen. Das Tragen von Eigenverantwortung, die individuelle Vorsorge und das Erzielen eines Einkommens auf Märkten durch Leistung, Lernbereitschaft und Anpassungsfähigkeit würden zunehmend als unnötige Last empfunden. Nicht wenige wünschten sich, dass sie ihre Verantwortung für den eigenen Lebensunterhalt und zur Vorbeugung gegen Risiken vollständig dem Staat abtreten könnten. Dieser werde sich dann — so die naive Vorstellung — liebevoll, fürsorglich und vorausschauend um einen kümmern.
Eine solche Verschiebung der Entscheidungskompetenz vom Einzelnen auf die politische Ebene ziehe allerdings problematische Folgen nach sich. Bei zunehmender staatlicher Zuständigkeit in immer mehr Lebensbereichen würden erfahrungsgemäss Lobbyismus, Vetternwirtschaft und Machtmissbrauch akuter. Nicht zuletzt stelle sich eine zentrale Frage: Wenn der Staat erst einmal mächtig genug ist, um uns vor allen möglichen Risiken zu schützen, wer kann uns dann noch vor dem Staat schützen?
Sehen Sie sich hier die Einführung von Olivier Kessler als Video an:
In seinem Referat zeigte Prof. Michael Esfeld, Professor für Wissenschaftsphilosophie an der Universität Lausanne, Mitglied der Leopoldina und Mitglied des Akademischen Beirats des Liberalen Instituts, dass die Freiheit die «condition humaine» der Menschen sei, weil diese frei in ihrem Denken und Handeln seien. Um urteilen und entscheiden zu können, seien wir auf Wissen über die Beschaffenheit der Welt angewiesen. Dieses objektive Wissen zur Verfügung zu stellen, sei die Leistung der modernen Naturwissenschaften. Sie reduzierten das Risiko, das mit der Ausübung von Freiheit verbunden sei und nütze daher der Allgemeinheit. Dieses Wissen sei jedoch nicht normativer Art: Es könne uns keinen Lebensinhalt oder politische Entscheidungen vorgeben, weil diese von unseren divergierenden, individuellen Interessen und Präferenzen abhingen. Die Wissenschaft für politische Ziele einzuspannen oder Politikempfehlungen aus Sicht «der Wissenschaft» abzugeben, sei daher unredlich.
Negative Externalitäten seien schon immer die Achillesferse der offenen Gesellschaft gewesen. Weil die Freiheitsausübung des einen die Freiheiten anderer gefährden könne, schränke man die Freiheiten eines jeden zu einem gewissen Grad ein. Die aktuellen Entwicklungen zeigten jedoch, dass dieses Prinzip völlig überdehnt werde. Werde die Einschränkung von Grundrechten mit der Verbreitung von Krankheitserregern gerechtfertigt, werde damit jedes freie Handeln unter Generalverdacht gestellt: Jedes Handeln, jeder soziale Kontakt, jede freie Entscheidung könne ja zur Ausbreitung von Viren führen. So werde die offene Gesellschaft abgeschafft.
Sehen Sie sich hier das Referat von Michael Esfeld als Video an:
Ariel Sergio Goekmen-Davidoff, Partner bei LindemannLaw, Verwaltungsrat verschiedener erfolgreicher Unternehmen und Stiftungsrat in verschiedenen Stiftungen, stellte in seinem Referat fest, dass die Vorstellung des Menschen als unmündiges, nicht-emanzipiertes Wesen nicht nur das prägende Weltbild im totalitären Kommunismus gewesen, sondern auch in der heutigen Politik stark verbreitet sei. Dies zeige sich etwa daran, dass Regierungen auf allen Ebenen des Lebens eingriffen, aber auch in der paternalistischen Art, wie der Staat mit seinen Bürgern kommuniziere, etwa mit den Corona-Massnahmen-Plakaten, die in einer erzieherischen Eltern-Kind-Sprache verfasst seien.
Bei der Bevollmächtigung von Politikern, die im Auftrag der Bevölkerung handeln, könne es zu einem Principal-Agent-Konflikt kommen. Die Bevollmächtigten könnten absichtlich oder unabsichtlich gegen die Interessen der Auftraggeber handeln. Im Falle des Covid-19-Krisenmanagements sei dies klar der Fall gewesen. Solche Principal-Agent-Konflikte könnten entstehen, weil es diverse Spannungsfelder um die Bevollmächtigten herum gebe: Man möchte in der Öffentlichkeit gut dastehen und wiedergewählt werden, um Macht, Prestige und sein monatliches Einkommen zu sichern. Auch wenn es objektiv gesehen das Beste wäre, in einer Krisensituation nichts zu tun, könne dies rasch als Führungsschwäche ausgelegt werden und die Glaubwürdigkeit sowie die Wiederwahlchancen reduzieren.
Sehen Sie sich hier das Referat von Ariel Sergio Goekmen-Davidoff als Video an:
In seinem Referat zeigte Prof. Patrick Krauskopf, Rechtsanwalt, Leiter des Zentrums für Wettbewerbsrecht und Compliance an der ZHAW School of Management and Law, dass gerade im heutigen Meinungsklima der Null-Risiko-Gesellschaft oftmals ein Druck der Öffentlichkeit vorherrsche, jedes kleine Detail zu regeln. In der Corona-Krise sei dies besonders deutlich geworden. Dabei gebe sich die Gesellschaft oftmals nicht mit blossen Empfehlungen — beispielsweise einer Home-Office-Empfehlung des Bundesrats — zufrieden, sondern fordere, dass es eine Pflicht sein müsse. Und damit Unternehmen sich auch an diese Pflicht hielten, brauche es Sanktionen, die schmerzhaft seien.
Es sei also zu einem Grossteil den Bedürfnissen der Null-Risiko-Gesellschaft geschuldet, dass Risiken für Unternehmen aufgrund von Schadenersatzforderungen, Bussgeldern und Gefängnisstrafen täglich zunehmen. Um sich gegen diese steigenden Risiken zu schützen, investiere man bei Firmen in die Compliance. «Overcompliant» zu sein, sei allerdings auch ein Risiko, denn in erster Linie gehe es bei einem Unternehmen darum, Kundenbedürfnisse zu befriedigen. Beschneide ein Regelwerk die unternehmerische Freiheit ohne jegliche Not, so sei es an den Unternehmern, diese Informationen beim Gesetzgeber einzubringen, damit das Regelwerk angepasst werden könne.
Sehen Sie sich hier das Referat von Patrick Krauskopf als Video an:
Die darauffolgende Diskussion widmete sich unter anderem der Illusion der staatlichen Risikovermeidung. Einer der wichtigsten Grundsätze politischer Ökonomie sei, dass Massnahmen politisch kalkuliert werden müssten. Die Leitfrage der Politiker laute also: Was ist durchsetzbar? Und nicht etwa: Was ist sinnvoll, vernünftig oder wissenschaftlich? Auch ging es um mögliche Strategien zur Rückeroberung der Freiheit, die gerade durch die Pandemiebekämpfungsmassnahmen stark gelitten haben.
Sehen Sie sich hier die Diskussion als Video an:
Bestellen Sie hier das neue Buch der Edition Liberales Institut von Olivier Kessler und Beat Kappeler (Hrsg.) «Null-Risiko-Gesellschaft: Zwischen Sicherheitswahn und Kurzsichtigkeit».