Europa hat in den vergangenen Jahrhunderten eine Erfolgsgeschichte geschrieben, die ihresgleichen sucht: Von der Befreiung des Individuums über die Fortschritte in der Wissenschaft und Technik bis hin zur Industrialisierung und der enormen Verbesserung der Lebensstandards. Weshalb geschah dieser wissenschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Aufstieg gerade auf dem europäischen Kontinent? Sind die heutigen Institutionen der Europäischen Union dazu geeignet, diese Erfolgsgeschichte fortzuschreiben? Würde es der Schweiz eher zum Vorteil oder zum Nachteil gereichen, sich politisch enger an die EU zu binden? Im Rahmen des LI-Gesprächs vom 1. April 2021 wurden diese Fragestellungen vertieft diskutiert.
Einführend betonte LI-Direktor Olivier Kessler, dass die Freiheit zwar keine exklusiv europäische Idee sei, sie im Laufe der Geschichte aber dennoch nirgendwo so konsequent erforscht und auch umgesetzt wurde, wie in Europa. Die Europäer hätten erkannt, dass das Individuum Respekt vor seiner moralischen und physischen Integrität verdiene, und dass zwischenmenschliche Beziehungen nicht auf Gewalt und Zwang basieren sollten, sondern auf gegenseitigem Einvernehmen — also auf Tausch, Verträgen und Handel. Europäische Denker hätten ausführlich auf die Gefahr der Wissensanmassung, der Machtausübung und der Gesetzes- und Regulierungsflut hingewiesen. Es stelle sich die Frage, ob die Europäische Union in ihrer heutigen und möglichen künftigen Form diese Werte weiterhin zu Pflegen und zu Schützen imstande sei. Die zunehmende Überregulierung, Zentralisierung und Machtanmassung würden jedenfalls nicht dazu beitragen. Sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen sei elementar für die Beurteilung der Frage, welche Beziehung die Schweiz mit der EU anstreben sollte.
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In seinem Referat zeichnete Prof. Dr. Michael Wohlgemuth, Forschungsbeauftragter der Stiftung für Staatsrecht und Ordnungspolitik in Liechtenstein sowie Mitglied des Akademischen Beirats des Liberalen Instituts, verschiedene Szenarien der möglichen Entwicklung der Europäischen Union. Seiner Meinung nach ist das Szenario «Weiter wursteln wie bisher» erfahrungsgemäss das wahrscheinlichste. Aus liberaler Sicht die wünschenswerteste Entwicklung sei hingegen das Zulassen einer grösseren Flexibilität innerhalb der EU, wobei eine «Koalition der Willigen» sich politisch weiter integrieren könnte, ohne dass dabei alle Mitglieder mitmachen müssten. Je flexibler die EU nach innen ausgestaltet sei, desto besser sei dies für die Schweiz mit ihrem Bedürfnis nach einer punktuellen Zusammenarbeit. Aus politökonomischer Logik werde im EU-Parlament und in der EU-Kommission allerdings das Ziel verfolgt, viel mehr gemeinsames Handeln anzustreben, also mehr Kompetenzen auf EU-Ebene zu verschieben und auch eigene Steuern zu erheben. Der Brexit habe ausserdem zu einer grösseren Sturheit der EU nach aussen geführt.
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Heinrich Fischer, Verwaltungsratspräsident der Hilti AG und stv. Verwaltungsratsvizepräsident der Tecan AG, befasste sich in seinem Referat mit den Folgen des Rahmenabkommens für die Souveränität, die Freiheit und die Subsidiarität der Schweiz. Es sei klar, dass die Freiheit des einen am Gartenzaun des Nachbarn aufhöre und man sich hier arrangieren müsse. Doch es sei ein Trugschluss zu meinen, dass am Ende deswegen alle Gärten gleich aussehen müssten. Mit dem Föderalismus und der Subsidiarität sei die Schweiz bislang sehr gut gefahren. Der Rahmenvertrag mitsamt den zu erwartenden künftigen Weiterentwicklungen laufe Gefahr, diese Erfolgsfaktoren auszuhöhlen. Ausserdem würden demokratische Abstimmungen nach Abschluss eines Rahmenabkommens und der damit ausgeweiteten Guillotine-Klausel de facto alternativlos, was die Legitimität der direkten Demokratie gefährde. Es gelte daher, bessere Abkommen mit der EU anzustreben, zumal die Schweiz diverse Verhandlungstrümpfe in der Hand halte: So bestehe etwa auch seitens der EU Interesse an einem Marktzugang, weil die Schweiz für sie der viertgrösste Exportmarkt sei.
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Monika Rühl, Direktorin von economiesuisse, betonte, dass der Wirtschaftsdachverband, den sie vertritt, sich erst dann auf eine Position zum Rahmenabkommen festlegen möchte, wenn dieser in einer definitiven Form vorliege. Sie warnte jedoch davor zu meinen, man könne sich auch mit einem reinen Freihandelsabkommen mit der EU begenügen: Es seien heute nicht mehr die Zölle, welche die grössten Kosten für die exportierenden Unternehmen verursachten, sondern die technischen Handelshemmnisse. Damit Schweizer Produkte auf dem EU-Absatzmarkt «just in time» bei den Konsumenten ankommen könnten — also dann, wenn sie benötigt würden — bedürfe es einer unkomplizierten und raschen Zulassung durch die EU. Insofern sei ein möglichst diskriminierungsfreier sektorieller Zugang zum EU-Binnenmarkt, der mit den bilateralen Verträgen erzielt wurde und — wo nötig — ausgeweitet werden soll, eines der wichtigsten Ziele der Schweiz. Monika Rühl analysierte ausserdem das neue Abkommen Grossbritanniens mit der EU im Detail und kommt zum Schluss, dass dieses keine Option sein könne, welche die Schweiz als Alternative zum Rahmenabkommen anstreben sollte.
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Die darauffolgende Diskussion widmete sich unter anderem den Fragen, welche künftige Entwicklung der Europäischen Union am wahrscheinlichsten ist, welche Vor- und Nachteile ein sog. Rahmenabkommen der Schweiz mit der EU hätte, welche Alternativen es dazu gäbe und über welchen Verhandlungsspielraum die Schweiz verfügt. Einig war man sich in der Frage, dass nebst dem Fokus auf die Aussenpolitik nun endlich auch entschlossene liberale Reformen im Inneren angepackt werden sollten. Mehr und mehr implementiert die Schweiz die lausigen etatistischen Rezepte, die noch nirgendwo wirklich funktioniert haben, zentralisiert immer mehr Kompetenzen zu höheren Instanzen hinauf, reguliert die Märkte zunehmend und erhöht die Steuern und Abgaben schrittweise. Die politische Souveränität ist nur dann etwas wert, wenn man diese auch zum eigenen Vorteil zu nutzen vermag.
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