Mao Zedong, der 1949 an die Macht gekommen war, wollte China zum sozialistischen Musterland umgestalten und die Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus beweisen. Sein «Grosser Sprung nach vorne» war allerdings ein gigantisches wirtschaftliches und menschliches Desaster. Das sozialistische Experiment endete in der grössten von Menschen selbst verursachten Hungersnot der Geschichte. Nachdem Mao im Jahr 1976 gestorben war, kamen in China glücklicherweise pragmatischer denkende Politiker an die Macht, die spürten, dass die Menschen genug von Elend verursachenden sozialistischen Experimenten hatten. Sie bereisten intensiv erfolgreiche Länder und erkannten, dass es marktwirtschaftliche Elemente waren, die diesen Ländern Fortschritt und Wohlstand brachten.
Nicht über Nacht, sondern über Jahrzehnte hinweg wurde die Planwirtschaft durch marktwirtschaftliche Elemente ersetzt: Das Privateigentum wurde gestärkt und privates Unternehmertum gefördert. Auch die Etablierung von Sonderwirtschaftszonen, die aufgrund geringer bürokratischer Hürden und tiefer Steuern ausländisches Kapital anlockten, spielte eine wichtige Rolle. Die chinesischen Reformen wurden jedoch nur teilweise «von oben» initiiert. Vieles geschah spontan — die Kräfte des Marktes setzten sich gleichsam urwüchsig gegen den Staats-Dirigismus durch. Die wesentlichen institutionellen Innovationen wurden nicht in den Räumen des Politbüros aus den Taufe gehoben, sondern von zahlreichen lokalen Akteuren eingeführt, häufig in Form von informellen, gesetzeswidrigen Strategien.
Die Entwicklung Chinas zeigt, dass steigendes Wirtschaftswachstum — auch bei gleichzeitig steigender Ungleichheit — den meisten Menschen zugute kommt. Hunderten Millionen Menschen in China geht es heute sehr viel besser. Zugleich hat die Ungleichheit zwischen Arm und Reich in China in diesen Jahren stark zugenommen, wobei die Regionen in China mit dem höchsten Bruttoinlandseinkommen pro Kopf nicht die mit der höchsten, sondern die mit der geringsten Ungleichheit sind. Im Durchschnitt sind die Einkommensunterschiede dort am geringsten, wo die Wirtschaft am schnellsten wächst. Die Regionen mit den höchsten öffentlichen Ausgaben und Transferzahlungen sind die mit den grössten Einkommensunterschieden. In Gebieten, in denen Unternehmen höhere Profite machen und wo die Märkte am offensten sind, sind die Einkommensunterschiede geringer als in jenen, wo die Profite niedriger und die Märkte weniger offen sind.
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