Das versprochene «Ende der Geschichte» — es kam auch nach 1989 mit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums nicht, wie uns Fukuyama und andere weismachen wollten. Der ultimative Triumph liberaler Demokratie und Marktwirtschaft blieb bis heute aus und ist immer noch nicht in Sicht. Die Gewalt auf dem Balkan, der Krieg im Irak, der Völkermord in Ruanda, der wirtschaftspolitische Rückfall in Lateinamerika (Bolivien, Venezuela etc.) waren in Fukuyamas Spielplan nicht vorgesehen. Dass schon jetzt der Schuldenruin der USA und der Zusammenbruch des europäischen Wohlfahrtsstaats denkbar sind, macht auch Zukunftserwartungen auf das «Ende der Geschichte» eher unwahrscheinlich. Wie konnte die Geschichte es wagen, so zu versagen?
Nicht auf die Geschichte verlassen
Es ist immer falsch, sich auf geschichtliche oder ökonomische «Entwicklungsgesetze» zu verlassen. Der Marxismus — das wohl rigideste und ausgefeilteste Konzept eines wirtschaftlich-historischen Determinismus — ist nur das augenfälligste aller gescheiterten Experimente in dieser Richtung. Der Kapitalismus brach nicht zusammen, wo der Sozialismus kam, hätte er eigentlich nicht kommen dürfen (Russland), und der Sozialismus führte nicht zum Kommunismus, sondern zum Zusammenbruch.
Die intelligenteren Revisionisten unter den Marxisten, wie zum Beispiel der 1937 in Mussolinis Kerker gestorbene Antonio Gramsci, sahen bald, dass eine wirtschaftliche Krise hier und da noch nicht das «System» zerstören würde. Der vermeintlich unwichtige «Überbau» — die variablen und durch den Menschen beeinflussbaren Faktoren wie Kultur, Politik, Moral und Gesellschaft — sei überaus wichtig, meinte Gramsci. Hier gelte es, die überbauliche Ideenwelt zu verändern, bevor die wirtschaftlichen Kriseneffekte sich überhaupt zu einem Systemsturz entwickeln können.
Wiederholen die Liberalen von heute den gleichen Fehler, den die verbliebenen Marxisten heute meist nicht mehr begehen? Die Verschiebung geopolitischer Koordinaten — etwa durch den Zusammenbruch der UdSSR — oder die strukturelle Krise des sozial-korporatistischen Wohlfahrtsstaates in den westlichen Industrieländern garantieren weder den Erfolg der liberalen Sache, noch die Permanenz des Erfolges. Es gibt keinen Grund, dem Determinismus zu frönen, und an die eigene Auserwähltheit zu glauben. Jede Strukturkrise bietet Chancen — so auch die oben genannten. Sie müssen aber auch genutzt werden.
Vom Gegner lernen
Während sich tatsächlich einige Teile des «ökonomischen Unterbaus» unseres Wohlfahrtsstaats in eine Richtung bewegen, die eine baldige Krise nahe legen, und die durchaus liberale Entwicklungsmöglichkeiten erkennen lassen, ist der «Überbau» immer noch in der Hand der Linken im Lande. Das ist eine paradoxe Situation. Im Lichte ihrer eigenen philosophischen Position haben die Marxistoiden (etwa in Form der Globalisierungsgegner) in einer nicht-revolutionären Unterbausituation das revolutionäre Heft im Überbau in der Hand. Ironischerweise sind sie damit auch noch recht weit gekommen.
Auch über den Zusammenbruch des Kommunismus hinaus beherzigen Linke immer noch Gramscis Theorie der «kulturellen Hegemonie» und produzieren diese Hegemonie ungehindert. Ein fein gewobenes und dezentrales Netz von Meinungsmachern, meinungsmachenden Institutionen und Initiativen, Zeitschriften und Verlagen überzieht das Land. Im gegenwärtigen kulturellen Klima der Gesellschaft ist selbst die einsichtigste liberale Reform allenfalls als widerwillig hinzunehmende Notwendigkeit zu vermitteln. Freiheitsliebe keimt selten auf. Kaum eine Zeitungsredaktion (vor allem die Feuilletons, seltener die Wirtschaftsredaktionen) ist nicht auf Kurs getrimmt. Ja, man hat das Gefühl, dass die Antiliberalen, nachdem sich die mit realexistierendem Sozialismus verbundenen Hoffnungen zerschlagen haben, und das Scheitern des Kapitalismus an seinen ökonomischen Widersprüchen schier nicht eintreten will, überhaupt nur noch den Überbau bearbeiten, statt an den wirtschaftlichen Unterbau zu denken.
Umdefinieren und Besetzen von Begriffen — nach marxistischer Lehrart eigentlich das Privileg der herrschenden Bourgeoisie — ist in seltsame Hände gekommen. Dies kann bei den anstehenden Transformationsprozessen äusserst fatal sein. Liberale Reformen sind ja nicht der einzig mögliche Weg. Es kann sich auch eine brutale Verfestigung des Status Quo einschleichen — Umverteilen auf immer mickrigerem Niveau. Es ist durchaus anzunehmen, dass die Staatsgläubigkeit in vielen Ländern so gross ist, dass den Menschen auch dies mehr Recht ist als die kühle frische Luft der Freiheit. Es kann zur Ausgrenzung von Eigentümern, Ausländern und anderen kommen, also zu Ressentimentreaktionen, die den «starken Staat» speisen. Menschen sind dann bereit, von oben aufoktroyiertes Leid auf sich zu nehmen ohne zu rebellieren. Das Beispiel der Rentner und Bergarbeiter in Russland, die monatelang keine Löhne/Renten ausgezahlt bekommen, und die trotzdem etatistische Stammwähler sind, obwohl die Zeit reif für die Marktwirtschaft ist, zeigt dies: Leiden schafft Leidensfähigkeit.
Bevor die Krise sich also in liberale Richtung auflösen lässt, muss erst die liberale Perspektive in einer genügend grossen Zahl von Köpfen verankert werden. Hier kann man vom Gegner lernen, der an jedem echten oder vermeintlichen «Leck» (Gramsci) im System kulturelle Hegemonierepräsentanten hat.
Netzwerke bilden
«Kulturelle Hegemonie» kommt nicht von alleine. Sie ist auch in ihrer Wirkung beschränkt, wenn sie nicht alle Plattformen nutzt. Die «Hegemonie», die Liberale — fast ausschliesslich — unter den akademischen Ökonomen und Teilen der Unternehmerwelt geniessen, ist alleine nicht tragfähig.
Das soll ihren Nutzen nicht in Frage stellen. Sie verdient es sicher, dynamisch weiterentwickelt zu werden. Auch hier empfiehlt sich die (im linken Lager bereits professionell gehandhabte) Strategie dezentraler Vernetzung. So etwas funktioniert auch im liberalen Lager. Die Thatcher-Revolution wurde zum Beispiel durch ein kreatives Netzwerk von Wirtschaftsdenkfabriken, etwa dem Institute of Economic Affairs (IEA) und dem Adam Smith Institute (ASI), intellektuell vorbereitet. Häufig operierten die Think Tanks, die ja als privat finanzierte Institutionen ihre Marktnische finden mussten, auf zwei verschiedenen Ebenen. Während das IEA mit provokanten Grundsatzbeiträgen und Extremvorschlägen versuchte, allgemein das «Meinungsklima» in Grossbritannien zu verändern, arbeiteten andere Institutionen schon vorweg an konkret umsetzbaren Plänen und Regierungsvorlagen – inklusive einer Strategie zur Umsetzung und zum «Verkauf» an die öffentliche Meinung. Das funktionierte in einem Land, in dem liberale Traditionen kulturell stark verankert waren, in dem also marktwirtschaftliches Denken gut «eingebettet» war.
Aber klappt dies auch in Ländern, wo diese kulturelle Verankerung weit weniger ausgeprägt ist — etwa in Deutschland? Wahrscheinlich muss man hier wesentlich weiter ausgreifen. Kulturelle Hegemonie muss hier wohl aktiv erarbeitet werden. In Amerika ist man da schon weiter, weil (zugegebenermassen eine Minderheit — aber immerhin!) eine Anzahl von Medienstars, wie «Gubernator» Arnold Schwarzenegger, oder Clint Eastwood und Kurt Russell, oder die Humoristen P.J. O’Rourke und Dave Barry aktiv dem liberalen (nicht im amerikanischen Sinne des Worts) Anliegen ihre Stimme leihen und sich mit den politischen think tanks zum Teil «vernetzt» haben. So etwas darf man nicht unterschätzen. Mehr als jedes Wirtschaftsgutachten renommierter Institute hat zum Beispiel in Deutschland im letztenJahr der die Hitparaden erstürmende «Steuersong» des Gerhard-Schröder-Imitators Elmar Brandt für eine Volksstimmung gesorgt, die Bundeskanzler Schröder dann tatsächlich zu einer — immer noch zu zaghaften — Steuerreform zwang.
Nicht nur ökonomisch denken
Auch wenn die Kritik etwa der Linken an den ökonomischen Aspekten des Liberalismus eigentlich die gerade zu obsessionsartig verfolgte Kernbotschaft ist, so wird sie doch fast immer in eine andere Dimension gesetzt. Armut, Bedrohung kultureller Identität, Gefährdung von Umwelt, Multikulturalismus, postmaterielle Esoterik — das sind die nach vorne getragene Anliegen. Sie kreieren so etwas wie eine Atmosphäre von kollektiver/persönlicher Authentizität. Ein Verharren auf (meist abstrakt statistischen) ökonomischen Fakten und wirtschaftswissenschaftlichen Theorien, wie sie von vielen Liberalen praktiziert wird, kreiert hingegen so etwas wie kühle Distanz. Diese mag bei der Problemanalyse und der Entwicklung von Konzepten genau die richtige Vorgehensweise sein. Sie muss jedoch bei der Präsentation ergänzt werden. Es muss nicht nur der Verstand, sondern auch das Herz gewonnen werden.
Ein Arm am Rücken gefesselt, aber dennoch erfolgreich?
Es ist natürlich nicht zu leugnen, dass ein liberales Streben nach (wenigstens teilweiser) «kultureller Hegemonie» kein leichtes Unterfangen ist. Liberale befinden sich in einer äusserst «asymmetrischen» Gefechtslage. Antonio Gramsci und seine heutigen Adepten haben nie ausgeschlossen, Zwangsmittel bei der Auseinandersetzung zu benutzen. Dabei ist nicht einmal so sehr direkte physische Gewalt, Verfolgung oder Inhaftierung gemeint. Dass diese nicht in den politischen Diskurs gehören, ist gottlob noch allgemeiner Konsens in den meisten halbwegs zivilisierten Ländern. Vielmehr geht es um die Besetzung des öffentlichen Raums vermittels der ihn tragenden Staatsmacht. Die Präsenz in Aufsichtsräten
öffentlich-rechtlicher Medienanstalten, die Förderung von Projekten und Erziehungseinrichtungen, von «NGOs» durch den Staat seien genannt. Um die entsprechenden Ministerien hat sich bereits ein ins Parasitäre tendierender Kranz von «advocacy-groups» gebildet. Besonders wild ist es auf der internationalen Ebene. Im Dunstkreis der UN hat sich ein dichtes und riesiges Netzwerk von organisiertem «Gutmenschentum» aufgetan, das bereits in der Lage ist, sich aus der UN heraus die geeigneten Plattformen — meist «Gipfel» (über Umwelt, Bevölkerung usw.) genannt — und Organisationen zu schaffen und sich selbst damit zu perpetuieren.
Solche Wege sind zumindest für konsequente Liberale kaum begehbar. Die Instrumentalisierung von Staatsmacht — gleich ob regional, national oder supranational — zur Gewinnung unfairer Vorteile in einem nun verzerrten Meinungsmarkt ist für sie kaum akzeptabel. Sie kann auch nur in einem «wohltätigen» Interventionsstaat stattfinden, den zu Demontieren ja eigentlich das liberale Ziel ist.
Was heisst das? Das heisst, dass der Liberale strukturell benachteiligt gegenüber seinen skrupelloseren Gegnern ist. Er kämpft sozusagen mit einem Arm auf den Rücken gefesselt. Sollte uns das zu kulturpessimistischen Untergangsszenarien animieren — zu resignierter Hoffnungslosigkeit?
Nicht unbedingt. Auch hier ist der Blick in die Waffenkiste des Gegners keine schlechte Taktik. Die Linke steht eigentlich schlechter da als sie aussieht. Mit einem «Unterbau» — dem bröckelnden Halb-/Dreiviertel-Sozialismus der Industrieländer —, der eigentlich gegen sie wirkt, wird ein Teil der kulturellen Hegemonie im «Überbau» neutralisiert. Das ist die Chance.
Milieus schaffen
Eine zentrale Aufgabe ist dabei die Bindung von Milieus an die Sache des Liberalismus. Damit ist ganz klar nicht die Bedienung von kurzlebigen Lobbyinteressen gemeint, sondern eine tiefergehende strukturelle Bindung. Das war im 19. Jahrhundert etwas leichter als heute, weil es ein aufstrebendes, fortschrittliches Bürgertum gab, das heute so nicht mehr existiert. Die mittelständische Wirtschaft, die heute gerne stattdessen genannt wird, ist teilweise konservativ berufsständisch erstarrt, obwohl die «new economy» hier tatsächlich dauerhaft einiges verändert hat. Sie reicht jedenfalls nicht aus.
Milieus kann man finden — wenn man Glück hat. Man kann sie aber auch schaffen. In seiner Blüte war dies dem Liberalismus klar. Heute scheinen wir vergessen zu haben, dass der Liberalismus immer eine in hohem Masse gesellschaftsverändernde Kraft war. Weil sie so defensiv und auf kurzfristige ökonomische Notwendigkeiten reduziert (Stichwort: Sparzwang bei den öffentlichen Haushalten) geführt wird, übersieht man bei der liberalen Debatte um eine grundlegende marktwirtschaftliche Reform, das eine solche Reform (wenn sie wirklich grundlegend ist) eine politische und gesellschaftliche Dimension hat. Wo «Privat vor Staat» zutrifft, da gelten auch andere politische Entscheidungsstrukturen, nämlich solche ohne (oder mit geringem) korporatistischen Unterbau. Auf der gesellschaftlichen Ebene würde die Rentengesellschaft in eine Eigentümer- und Vertragsgesellschaft transformiert. Konsequent durchdacht handelt es sich um kaum etwas anderes als eine Revolution.
Diese Revolution steht — man soll schliesslich sich nicht selbst überschätzen — noch nicht unmittelbar ins Haus. Aber man kann die Lektion, die sich aus solch einem Szenario ergibt, ja auch auf einzelne Reformvorhaben, auf die man sich konzentrieren sollte, anwenden. Im 19. Jahrhundert lieferte zum Beispiel in Deutschland der Manchesterliberale Hermann Schulze-Delitzsch mit dem von ihm konzipierten Genossenschaftsgesetz ein Beispiel dafür. Er verhalf damit einem bedrohten Eigentümermilieu (Kleinunternehmer etc.) zu neuen Chancen, ohne auf staatliche Zwangsalimentierung zu bauen. Das Genossenschaftsmilieu war über lange Zeit ein den fortschrittlichen Freisinn in Deutschland stützendes Milieu.
Die Neue Linke der späten 60er Jahre hat diese Strategie des Milieuaufbaus perfekt beherzigt. Ihr wachsender politischer Einfluss schuf professionelle Verankerungen für ihr Milieu, das sich meist aus Studierenden «brotloser» sozialpädagogischer Fächer zusammensetzte. Die «brotlosen» Künste waren, nachdem die Idee des allumfassenden «social engineerings» der Gesellschaft erst einmal netzwerkartig auf allen Ebenen der Politik verankert war, plötzlich gar nicht mehr so «brotlos», sondern satt staatsfinanziert. Aus dieser staatsabhängigen und doch staatskontrollierenden und staatsinfiltrierenden neuen Mittelschicht konstituiert sich etwa in Deutschland das Milieu der Grünen seit den 80er Jahren.
Mit der Ausnahme, dass sie aus inhaltlich-inhärenten Gründen die damit verbundene Subventionspolitik nicht mittragen sollten, können auch hier Liberale etwas vom Gegner lernen. Es gibt durchaus Beispiele für nicht-zwangssubventionierende und daher echte liberale Politik, die so etwas leisten könnten. Dazu gehören allgemein Steuersenkungen, die Leistungsträger von Lasten befreien. Im Speziellen gehören dazu aber vor allem Privatisierungen, die helfen, wenigstens in gesellschaftlichen Teilbereichen die Eigentümer- und Vertragsgesellschaft einzuführen. Die von der Thatcher Regierung 1987 lancierte Privatisierung von BP mit «Volksaktien» unter dem Motto «Volkskapitalismus» leitete Ende der 80er Jahre den Aktienboom ein, der die sozialen Einstellungen grundlegend veränderte. Noch wichtiger war zuvor der preisgünstige Verkauf von staatlichen Sozialwohnungen an die Bewohner. Derartiges hätte sich auch für die Wohnungen in den Plattenbauten in der ehemaligen «DDR» nach 1989 angeboten (durchaus mit symbolischen «Spottpreisen» für die Bewohner). Die Umwandlung in eine Eigentümergesellschaft, die damit eingetreten wäre, hätte viel unnötige «Ostalgie» und andere sozialistische Mentalitätsüberbleibsel verhindert, und eine breit angelegte Kapitalbildung erlaubt. Die Chance wurde vertan. Stattdessen bekamen meist grosse Wohnungsbaugesellschaften den Zuschlag für die Gesamtobjekte.
Strategie tut Not
Ein solches Konzept von kultureller Hegemonie und Milieubildung (beides hängt zusammen) setzt langfristiges Denken und Planen voraus. Politik — auch liberale Politik — ist zumeist in kurzfristigen Handlungsrähmen gefangen. Die Einspeisung von langfristigenKonzepten in die Politik und auch (und vor allem) die Schmackhaftmachung dieser Konzepte ist Aufgabe von Intellektuellen und intermediären Institutionen für Intellektuelle wie Think Tanks. Das Liberale Institut in Zürich sei als ein Beispiel genannt, das einen grossen (jedenfalls in keinem Verhältnis zu seiner eigentlichen Kleinheit) Einfluss ausübt. So etwas bräuchte man öfters und mehr.
Dr. phil. Detmar Doering ist Leiter des Liberalen Instituts der Friedrich-Naumann-Stiftung, Potsdam.