«Der Mut über Zusammenhänge zu reden, die man nicht vollständig kennt, über Tatsachen zu berichten, die man nicht genau beobachtet hat, Vorgänge zu schildern, über die man nichts ganz Zuverlässiges wissen kann, kurz: Dinge zu sagen, von denen sich höchstens beweisen lässt, dass sie falsch sind, dieser Mut ist die Voraussetzung aller Produktivität, vor allem jeder philosophischen… Die ganze Geschichte der Wissenschaften ist daher ein fortlaufendes Beispiel für den Wert des Dilettantismus.» Egon Friedell
Die beiden Begriffe, die das Thema des Kolloquiums «Christlicher Glaube und Kapitalismus» bestimmen, bedürfen einer Definition. Kapitalismus kann einerseits im Sinn von Karl Marx als rein materialistisches und atheistisches System aufgefasst werden, das seine perfekteste praktische Umsetzung im Staatsmonopol-Kapitalismus (=Stamokap) kommunistischer Prägung fand. Man kann Kapitalismus westlich-christlicher Prägung jedoch auch als System auffassen, das auf einer freien Marktwirtschaft mit Geld und Kapital als Verrechnungseinheit gegründet ist.
Im Kapitalismus, wie ich ihn verstehe, hat Geld keinen innewohnenden Wert, sondern ist eine Verrechnungseinheit für Güter und Leistungen. Ich definiere daher im Folgenden Kapitalismus nicht im marxistischen Sinn, und Kapital ist für mich nichts als die Summe des Geldes, d.h. eine Masseinheit wie z.B. Gramm, Joule, Meter usw. Kapitalismus ist aus dieser Sicht das System, das Geld als allgemein anerkannte Rechnungseinheit für Arbeit und Waren akzeptiert und das in der Bewertung dieser Güter nicht politisch oder ideologisch eingeschränkt oder bestimmt wird. Der so definierte «Kapitalismus» ist daher nur in einer freien Marktwirtschaft möglich und mit einer Planwirtschaft — egal welcher Couleur — nicht kombinierbar.
Unter Christentum subsumiere ich eine ganze Reihe religiöser Gruppierungen und theologischer Überzeugungen, die sich unter anderem auch im Hinblick auf die Akzeptanz und den Schutz des Privateigentums stark unterscheiden. Ein Grossteil der christlichen Kirchen bzw. ihrer Anhänger hat mit Geld und Gelderwerb ein moralisches Problem. Ein Beispiel dafür ist ein Teil der Katholischen Soziallehre und, ad extremis, die südamerikanische Befreiungstheologie. Speziell in Europa herrschen folgende Vorstellungen vor:
- Grössere Mengen Geldes können nicht «anständig» erworben werden.
- Privates Vermögen ist ab einer gewissen Höhe wenn nicht unanständig, so doch ungerecht. Es darf daher durch den Besitzer nicht frei verfügbar sein, sondern unterliegt einer «Sozialbindung». Diese muss durch den Staat über gesetzliche Verfügungsbeschränkungen und durch rigide Besteuerung, die einer teilweisen Enteignung gleichkommt, gewährleistet werden. Diese Enteignungen haben nicht das Wohl der Allgemeinheit oder bedürftiger Personen zum Ziel (das liesse sich mit anderen Mitteln besser erreichen), sondern dienen ausschliesslich der Herstellung einer bestimmten Auffassung von Gerechtigkeit.
- Das Erben oder das Geschenkt-Bekommen eines grösseren Vermögens ist eine soziale Ungerechtigkeit und soll verhindert werden.
Diese Auffassungen unterstellen dem Geld tatsächlich einen inneren Wert, allerdings einen eindeutig negativen. Diese Bewertungen erstrecken sich auf jegliche Art von privatem Vermögen und sind stark im europäischen Zeitgeist verankert, der durchaus auch von sozialistischen (nicht sozialen!) und damit auch atheistischen Wertmassstäben geprägt ist.
Was sind die Aussagen der Bibel zu diesen Themen?
Zunächst sei ein moderner Text zitiert:
«Gott sagt: Du schleppst den Gedanken mit dir herum, dass Geld etwas Schlechtes ist. Und du trägst auch den Gedanken in dir, dass Gott gut ist. Sei gesegnet! Von daher sind innerhalb deines gedanklichen Systems Gott und Geld nicht miteinander vereinbar. Das macht die Dinge interessant, weil du es dir auf diese Weise erschwerst, für irgend etwas Gutes Geld zu nehmen. Das heisst, je besser etwas ist, desto weniger Geld ist es wert.» (aus: N. D. Walsch «Gespräche mit Gott»)
Aus den Evangelien und den Zehn Geboten ergeben sich aus meiner Sicht an eine christlich bestimmte Gesellschaft folgende Anforderungen:
- Glaubensfreiheit (nur christlich, nicht mosaisch)
- Gleichheit vor dem Recht
- Unantastbarkeit des menschlichen Lebens (10 Gebote)
- Unantastbarkeit des privaten Eigentums unabhängig von Grösse und Verwendung (10 Gebote)
- Individuelle Verantwortung vor dem eigenen Gewissen
- Vertragsfreiheit bezüglich der Entlöhnung von Arbeit und des Preises von Gütern
- Vertragsfreiheit bezüglich politischer und gesellschaftlicher Systeme
- Leistungsbereitschaft
Es zeigt sich schon bei einer oberflächlicher Betrachtungsweise, dass das kapitalistische System mit freier Marktwirtschaft, freien Unternehmern und freiem Eigentum jene Organisationsform ist, die den acht angeführten Anforderungen am ehesten entspricht.
Das tiefe Misstrauen gegen den Kapitalismus, das man in unserer Gesellschaft gestützt auf philosophische, sozialwissenschaftliche und ideologische Lehrmeinungen verbreitet und das durch eine Mehrheit der Medien in der öffentlichen Diskussion gestützt wird, liegt offenbar in einer missverstandenen Auffassung von einer christlichen Lebensführung. Das oben beschriebene christliche Wertesystem wird in seiner gesellschaftlichen Bedeutung im heute vorherrschenden Konsens meist falsch gewichtet. Dieser Konsens basiert auf folgenden Vorstellungen:
- «Chancengleichheit» ist ohne Rücksicht auf objektive und subjektive Unterschiede zu gewährleisten
- Einkommen sind zu nivellieren
- Grosse Privatvermögen sind suspekt, während das Vermögen einflussreicher Gruppierungen wie Parteien, Gewerkschaften und Verbänden unbedenklich ist
- Rechtsgleichheit spielt keine Rolle, wenn es darum geht, den — oft willkürlich definierten — Unterprivilegierten zu helfen
- Der Versorgungsanspruch besteht unabhängig von der Leistungsbereitschaft
- Der Appell an den Neid geht vor der Aufforderung, die eigene Lebensfreude ohne den Blick auf andere zu suchen.
Weit verbreitete Wirtschaftsskepsis
Man muss sich die in einem solchen System inhärenten Ungerechtigkeiten einmal deutlich vor Augen führen. Es beinhaltet beispielsweise das Recht auf Nichtstun, Faulheit, destruktives oder schikanöses Verhalten gegenüber Unternehmern oder Sozialsystemen, ohne gleichzeitig auf das entsprechende Einkommen oder die Unterstützung durch die Solidar-Gemeinschaft zu verzichten. Anderseits wird erwartet, dass Einzelne ihr Leben dem Wohl der Allgemeinheit widmen, z.B. als Arzt, Unternehmer, Wissenschafter, Staatsmann, bei gleichzeitiger Verweigerung der entsprechenden wirtschaftlichen Kompensation.
Es soll hier nicht einer Leistungszwang-Gemeinschaft das Wort geredet werden. Natürlich hat der Einzelne das Recht, sich für eine Diogenes-Lebensweise zu entscheiden, nur darf er sich dann auch von «Alexander» nichts wünschen und schon gar nicht etwas fordern. Ich darf dazu anmerken, dass ich persönlich ein grosser Anhänger solcher Diogenes-Menschen bin. Die Welt wäre ohne sie ein bisschen grau.
Man kann nun feststellen, dass diese zeitgeistbedingten Vorstellungen eine freie Marktwirtschaft verhindern bis verunmöglichen und auf die Dauer jede Volkswirtschaft ruinieren. Das ist nicht nur eine Möglichkeit sondern eine inhärente Folge der erwähnten gesellschaftlichen Einstellungen. Unsere Nachbarländer demonstrieren dies geradezu schulbuchmässig. Solche Vorstellungen schaden dem Einzelnen und der Gemeinschaft auf allen Ebenen der materiellen und später auch der geistigen Lebensgrundlagen und stellen ein grosses Potential für politische Gefahren dar.
Es ist ganz offensichtlich, dass diese Ansichten der christlichen Tradition und ihren Anforderungen zutiefst widersprechen. Ich kam daher während der Diskussionen im Rahmen des Kolloquiums zum Schluss, dass Christentum und Kapitalismus in meiner Definition keinen Gegensatz darstellen, sondern sich so ergänzen, dass sie sich geradezu gegenseitig bedingen.
Wirtschaftsferne antike Philosophie
Hingegen sehe ich heute zwei andere Gegensatz-Paare: Zeitgeist und Christentum; Zeitgeist und freie Marktwirtschaft, Eigentum, Freiheit, Kapitalismus.
Die Forderung aus den 10 Geboten, das Eigentum nicht nur für unantastbar zu halten und die strikte Untersagung, es auch nur zu neiden, stellen die biblische Moral in einen ganz klaren Gegensatz zu unserer heutigen europäischen Auffassung. Warum aber hat sich Europa, das doch auf der christlichen Tradition basiert, in eine Situation begeben, die das erfolgreiche Zusammenwirken von Christentum und Kapitalismus so sehr ablehnt? Wie entstanden diese Strömungen?
Ein klärender Hinweis dazu findet sich beim Kulturhistoriker Egon Friedell. Er beschreibt sehr zutreffend die bis heute vorherrschenden Ansichten einer selbsternannten geistigen Elite:
«Den untersten Rang in der Hierarchie der menschlichen Betätigungen nimmt das Wirtschaftsleben ein. Über dem Wirtschaftsleben erhebt sich die Gesellschaft, mit ihm in engem Zusammenhang, aber nicht identisch. Noch weniger als die Gesellschaft lässt sich der Staat mit der Wirtschaftsordnung identifizieren. Im Reich des Geisteslebens nimmt die unterste Stufe die Wissenschaft ein. Über ihr erhebt sich das Reich der Kunst. Als der Kunst völlig ebenbürtig ist die Philosophie anzusehen. Die Spitze und Krönung der menschlichen Kulturpyramide wird von der Religion gebildet.» (Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit)
Diese Bewertung der menschlichen Tätigkeiten hat ihren Ursprung weitgehend in der Übernahme der griechischen Wertmassstäbe, insbesondere aus der Philosophie Platons, durch eine wohlhabende europäische Oberschicht. Die Wurzeln dieser Philosophie entstammen einer ebenfalls wohlhabenden, griechischen Oberschicht. Diese hatte eine rücktsichtslose Einstellung gegenüber ihren ärmeren Mitbürgern und erst recht gegenüber Sklaven und Kriegsgefangenen. Der Mensch lebt zwar nicht von Brot allein, aber ohne Brot überlebt kein Philosoph, kein Künstler und auch kein Theologe; die alle darauf angewiesen sind, dass eine breite Bevölkerungsschicht mit sogenannt «niedrigen» Tätigkeiten durch die Produktion von Nahrung, Behausung und Kleidung den Lebensunterhalt sichert und durch ihren Einsatz, beispielsweise als Polizist oder Soldat zu ihrem Schutz beiträgt.
Freiheit als Voraussetzung der Menschlichkeit
Eine Hierarchie der menschlichen Tätigkeiten ist grundsätzlich abzulehnen. Keine der Tätigkeiten oder Wissenschaften, seien es nun die Naturwissenschaften, Rechts- und Staatswissenschaften, Künste, Religionen und Philosophien, darf allein bestimmend werden. Ein für das Zusammenleben und den Erhalt der Menschheit benötigtes Staats- und Wirtschaftssystem darf grundsätzlich seine Berechtigung nicht zwingend und ausschliesslich aus einer der oben genannten Wissenschaften ableiten. Die perversesten Systeme der Menschheitsgeschichte, der Kommunismus und der Nationalsozialismus einerseits und sogenannte «Gottesstaaten» anderseits (egal ob islamischer oder «christlich» sektiererischer Art), definieren ihre Existenzberechtigung immer über den Ausschluss einzelner oder mehrerer Tätigkeiten oder Wissenschaften. Der Kommunismus und der Nationalsozialismus basierten auf einer materialistischen Philosophie unter Ausschluss von Religion, Teilen der Naturwissenschaften, Rechts- und Staatswissenschaften. Sogenannte «Gottesstaaten» hingegen geben das absolute Primat einer einzigen, eng definierten Religion unter Ausschluss fast aller bürgerlichen Freiheiten. Beiden totalitären Staatsformen ist gemeinsam, dass sie keine freie Marktwirtschaft dulden und die christlichen Gebote gegenstandslos sind. Um solche Perversionen zu vermeiden, sollten keine wissenschaftlichen Theorien zur Basis von Normen werden, die als oberste Prinzipien den Menschen vorschreiben, wie sie von ihrer Freiheit Gebrauch machen dürfen. Dasselbe gilt auch für die ökonomischen Prinzipien nach denen Güter produziert werden und nach denen Eigentum erworben und genutzt werden soll.
Staats-, Wirtschafts- und Religionssysteme dürfen und sollen lediglich in jenen Fällen Einschränkungen formulieren, wo es sicherzustellen gilt, dass die persönliche Freiheit jedes Einzelnen dort endet, wo die des Nächsten beginnt.
Abschliessend sei noch bemerkt, dass in den bisherigen Ausführungen wesentliche Anforderungen an jene Menschen, die in der Nachfolge Christi leben oder zu leben versuchen, nicht erwähnt worden sind. Dazu gehören Nächstenliebe, Zuwendung, Verzeihen, Mitleid und Barmherzigkeit, Schutz der Hilflosen und Mildtätigkeit gegenüber den Armen. Diese Verhaltensweisen des Individuums beruhen auf der Eigeninitiative und der Eigenverantwortung. Sie können letztlich nicht durch staatlichen Zwang durchgesetzt werden. Dies aufzuzeigen ist nicht nur Sache der Religion, sondern auch Sache der Geisteswissenschaften. Hierin liegt die grosse Aufgabe für ihre Lehrer, dass sie ihren Schülern die Notwendigkeit dieser Verhaltensweisen vermitteln. Ich bin der festen Überzeugung, dass auch das beste aller Wirtschafts-, Staats- und Rechtssysteme auf die Dauer nur erfolgreich sein kann, wenn sich die Menschen weitgehend diesen christlichen Idealen entsprechend verhalten.